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Sieben Siegel 10 - Mondwanderer

Sieben Siegel 10 - Mondwanderer

Titel: Sieben Siegel 10 - Mondwanderer
Autoren: Kai Meyer
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Nebel
    Mit dem Nebel kam noch etwas anderes.
    Etwas Großes. Etwas Dunkles.
    Es schob sich aus den dichten Schwaden, die am Morgen aus den Wäldern aufgestiegen waren, schnaufte heran wie ein Gigant aus der Urzeit, wurde dann mit einem Mal langsamer, stieß ein letztes Rauschen und Keuchen aus, ehe es endgültig zum Stehen kam.
    Finster thronte es auf dem alten, stillgelegten Bahndamm, hoch über den Wiesen und Weiden im Norden Giebelsteins. Es hatte die überhängenden Äste der Brombeerbüsche zermalmt, die den rostigen Schienenstrang flankierten, hatte das Unkraut zwischen den Gleisen und Schwellen niedergewalzt und Kaninchen und Mäuse vertrieben, die hier in der Stille des Tages aus ihren Verstecken kamen. Selbst die Raubvögel, die sonst auf den Wiesen ihre Opfer schlugen, schossen mit raschem Flügelschlag davon, so als spürten sie, dass das Ding auf den Schienen etwas ausstrahlte, das schlimmer war als ihr Hunger und sehr viel unangenehmer als die Gewissheit, anderswo nach Beute Ausschau halten zu müssen.
    War es nur eine Täuschung, oder wurde der Nebel immer noch dichter? Die Sicht reichte bald keine zehn Meter mehr weit, und schließlich erstarben alle Laute der Natur.
    Kein Vogelgezwitscher mehr, kein Rascheln im hohen Gras der Weiden, kein Piepsen und Schnurren in den Begrenzungshecken.
    Auch der Koloss auf dem Bahndamm verstummte. Falls er Leben barg, so offenbarte er es nicht. Und wenn er mehr im Sinn hatte, als einfach nur dazustehen, groß und düster und doch unsichtbar im Nebel, so verriet er durch nichts den Grund seines Erscheinens.
    Etwas war gekommen, etwas Fremdes, Erstaunliches, Angsteinflößendes.
    Es hatte den Nebel mitgebracht wie eine Braut ihre weiße Seidenschleppe, und nun stand es da im Verborgenen.
    Es rührte sich nicht.
    Es horchte.
    Es wartete.
    Ein vager Umriss raste aus dem Nebel auf sie zu, und im ersten Moment überkam Lisa ein solcher Schrecken, dass sie sogar ihren Ärger über Toby vergaß.
    »Hallo Lisa«, rief Chris, verriss den Lenker seines Fahrrads und brachte es schlitternd vor ihr zum Stehen. Schotter spritzte über den Vorplatz des alten Hotels Erkerhof.
    »Hi!« Sie atmete erleichtert auf. Nur Chris auf seinem Rad. Keine Gefahr, trotz des unheimlichen Nebels.
    »Ich hab Toby gesehen. Er ist mir unten auf der Pappelallee entgegengekommen.«
    »So?« Lisa tat desinteressiert.
    »Er sah nicht fröhlich aus.«
    »Dazu hat er auch keinen Grund.«
    Chris hob eine Augenbraue. »Habt ihr Krach?«
    »Krach?«, wiederholte Lisa naserümpfend. »So kann man das auch nennen. Wenn du einen Wirbelsturm oder einen Vulkanausbruch oder radioaktiven Niederschlag … also, wenn du all das Krach nennen würdest, ja, dann hatten wir wohl nur Krach. «
    »Oje«, sagte Chris und wedelte mit der Hand, als hätte er sich die Finger verbrannt. »Das klingt ungut.«
    »Ich hab ihm gesagt, dass es aus ist.«
    »Bist du sicher, dass du das gesagt hast?«
    »Wie meinst du das?«, fragte sie lauernd.
    »Na ja, warst tatsächlich du es, die Schluss gemacht hat?«
    »Wer denn sonst?«
    »Er vielleicht.«
    » Toby? «
    »Wenn du’s nicht warst …«
    »Aber ich hab doch gesagt, dass ich –« Lisa brach wütend ab, als ihr ein Gedanke kam. »Du hast mit ihm gesprochen!«
    Chris druckste herum. »Nur ganz kurz.«
    »Und er hat behauptet, er hätte mit mir Schluss gemacht?«
    »Nimm’s ihm nicht übel.«
    »Hat er?«
    Chris nickte.
    Lisa stampfte mit einem Fuß auf. »So ein Arsch!«
    »Na, na, na – solche Ausdrücke!« Chris grinste von einem Ohr zum anderen.
    »Chrysostomus Guldenmund, ich hab keine Lust auf Belehrungen von einem –«
    »Älteren?«
    »Einem pubertären Idioten!«
    Chris schnappte nach Luft. »Pubertär? Du redest ja wie meine Mutter! Und, Mensch, Lisa, du bist sogar noch ein Jahr jünger als ich.«
    Sie lächelte triumphierend. »Hattest du vielleicht schon eine Freundin? Nein? Na also. Dann kennst du dich in solchen Dingen auch nicht aus.« Basta, fügte sie in Gedanken trotzig hinzu und hätte sich zugleich am liebsten auf die Zunge gebissen. Wie konnte sie nur so zickig sein?
    Natürlich wusste sie, dass Händchenhalten und Knutschen mit Toby nicht unbedingt eine Sache zum Angeben war, aber im Augenblick hatte sie das Gefühl, jedem Jungen dieser Welt eins auswischen zu müssen. Chris hatte einfach nur das Pech, dass er gerade zum falschen Zeitpunkt aufgetaucht war – oder zum richtigen, je nachdem, wie man es betrachtete.
    Er legte die Stirn in Falten. »Wenn man mit
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