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Sieben Siegel 10 - Mondwanderer

Sieben Siegel 10 - Mondwanderer

Titel: Sieben Siegel 10 - Mondwanderer
Autoren: Kai Meyer
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Natürlich, weder er noch Kyra hatten in all der Aufregung daran gedacht, dass die Korridorlampen sich automatisch einschalteten, sobald jemand aus einem der Zimmer trat. Nils’ und Lisas Eltern hatten den Mechanismus einbauen lassen, als sie Teile des Gemäuers mit der Erbschaft einer entfernten Verwandten renoviert hatten.
    Der Schaltkasten, mit dem sich die Automatik deaktivieren ließ, lag am anderen Ende des Korridors. Gut vierzig Meter entfernt.
    Ein Knirschen ertönte. Nils traute seinen Augen nicht, als er sah, dass etwas von innen die Klinke seiner Zimmertür herabdrückte. Sein erster Impuls war, mit beiden Händen dagegenzuhalten. Aber er hatte die üble Ahnung, dass das Schleimvieh auf der anderen Seite stärker war als er, auch wenn es aussah, als sei es gerade erst aus irgendeinem Tümpel gekrochen.
    Nils lief los.
    Lief, so schnell er konnte.
    Hinter ihm stieß die Klinke an ihren Anschlag. Die Tür öffnete sich. Wie eine schwarze Zungenspitze schob sich ein Fangarm um die Ecke.
    Zehn Meter. Fünfzehn Meter. Nils keuchte. Er lag jetzt seit Tagen im Bett, und das Fieber war noch immer nicht verschwunden – ganz abgesehen von den roten Pusteln, die seinen Körper bedeckten. Die Windpocken hatten ihn ziemlich geschwächt. Er stolperte mehr vorwärts, als dass er rannte, und schon jetzt ging ihm die Puste aus.
    Die Tür war inzwischen weit offen. Der Stern aus Schattenfleisch kroch um den Rahmen herum auf den Gang. Der Körperbalg im Zentrum der schwabbeligen Spitzen blähte sich schneller, so als zehrte er von dem hellen Licht, das den Korridor erfüllte. Er witterte den Schatten seines Opfers mit der gleichen Deutlichkeit, mit der Haie frisches Blut riechen. Das Wesen hätte Nils wahrscheinlich über hunderte von Metern wahrgenommen. Schatten waren alles, was es kannte; es selbst war aus ihnen geschaffen.
     

Zwanzig Meter.
    Fünfundzwanzig.
    Der Schattenstern stieß sich ab und schoss wie eine schleimige Kanonenkugel den Gang hinunter.
    Nils blickte über die Schulter und erkannte, dass er es nicht mehr schaffen würde. Der Schaltkasten war zu weit entfernt.
    Er blieb stehen, wartete ab – und warf sich schlagartig nach rechts.
    Eine Armspitze des Sterns streifte seine Schulter, doch die Kreatur verfehlte ihn, schnellte von ihrem eigenen Tempo getrieben an ihm vorüber und klatschte fünf Schritte entfernt zu Boden.
    Nils warf die nächstbeste Tür auf und stolperte in das dahinter liegende Gästezimmer. Hinter ihm fiel die Tür wieder ins Schloss. Ein Aufschub. Wenigstens für ein paar Sekunden.
    Gehetzt schaute er sich um. Ihm war schwindelig. Er konnte fühlen, wie das Fieber erneut in ihm aufstieg, eine Reaktion seines Körpers auf die unerwartete Anstrengung nach all den Tagen im Bett. Schweiß floss ihm in Strömen übers Gesicht und in die Augen. Seine Beine bebten. Seine Hände zitterten so sehr, dass er Mühe hatte, nach der Schiebetür des hohen Wandschranks zu greifen.
    Mit einem Surren glitt sie zur Seite. Der Schrank bot Platz für die Kleidung von mindestens zwei Personen. An einer Stange baumelte ein Dutzend Kleiderbügel aus schwarzem Plastik.
    Vom Korridor ertönten die Schlürflaute des Schattensterns. Der helle Spalt unter der Zimmertür verdunkelte sich, als sich von außen ein flacher Umriss davor schob.
    Nils kletterte in den Wandschrank. Die Kleiderbügel klimperten verräterisch. Er ergriff einen, brach ihn über dem Knie entzwei und befühlte in der Dunkelheit die Bruchstelle. Zufrieden erkannte er, dass sie spitz war wie ein Messer. Besser als gar keine Waffe.
    Rasch schloss er die Schranktür. Sie bestand aus schmalen Holzlamellen, durch deren enge Zwischenräume er vage den Umriss der Tür sehen konnte. Im Zimmer war es sehr dunkel – vielleicht sogar dunkel genug, dass die Kreatur ihn nicht würde wittern können –, doch sobald die Tür zum Flur aufging, würde von dort draußen Licht hereinfallen. Genug, um durch die Lamellen der Schranktür zu dringen. Genug, dass er einen Schatten werfen würde.
    Nils drängte sich in die hinterste Ecke des Wandschranks. Das Zimmer war unbewohnt, und so war auch der Schrank leer. Keine langen Kleider oder Mäntel, hinter denen er sich hätte verstecken können. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, sich hierher zu flüchten.
    Aber was blieb ihm anderes übrig?
    Er hörte das Schleifen des feuchten Schattenfleischs, dann das Knirschen der Türklinke. Lichtschein fiel vom Flur ins Zimmer, ein breites V aus Helligkeit,
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