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Seitensprung ins Glück

Titel: Seitensprung ins Glück
Autoren: Mary E Mitchell
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versunken ist. Er sieht stark und unerschütterlich aus, aber er ist ein achtzig Jahre alter Mann mit Prostatakrebs. Wie lange werde ich ihn noch haben?
    »Daddy?«, frage ich. »Vermisst du Alexa?«
    Das ist eine dumme Frage, aber etwas in mir drängt mich, sie laut auszusprechen. Auch der Zeitpunkt ist schlecht gewählt, wo doch der noch frische Verlust auf Pulkowskis Schultern lastet.
    Doch sein Gesicht leuchtet auf, als er den Namen seiner Tochter hört. Er sieht mich aus müden Augen an und drückt mich dann fest an sich.
    »Natürlich vermisse ich mein anderes kleines Mädchen«, sagt er.
    »Möchtest du, dass ich versuche, sie zu finden?«
    Er bläst warme Atemluft gegen meinen Schädel. »Was, wenn ich dir sage, dass ich weiß, wo sie ist?«
    Ich entziehe mich ihm und spüre, wie das Blut in meinen Adern pulsiert. »Was?«
    »Deine Mutter und ich wissen, wo sie ist. Aber sie will uns nicht sehen. Sie hat Angst, wir könnten … na ja, versuchen, etwas zu unternehmen.«
    Mein Herz zieht sich zusammen. Der Wind hebt die Ecke meiner Jacke an, doch ich spüre es nicht. »Was versuchen?«, frage ich.
    »Sie lebt in einer Art Kommune im Bundesstaat Washington.«
    »In einer Kommune? «
    Er lächelt. »Genau. Und sie isst nur Gemüse.« Pulkowskis Grinsen wird breiter. »Das hat deine Mutter unglaublich gestört.«
    Ein Auto rauscht vorbei, die Lichter blenden. Blinzelnd sehe ich zu Boden.
    »Sie bauen Brokkoli an«, sagt er. »In der Kommune.« – »Ist sie nie zurückgekommen?« – »Nein.«
    »Wollte sie mich nie sehen?«
    Pulkowski schweigt fast eine ganze Minute lang. Der Wind frischt auf, während der Himmel sich allmählich dunkelblau färbt, doch keiner von uns macht Anstalten, wieder hineinzugehen. »Das ist die Art Frage, auf die es keine gute Antwort gibt«, sagt er schließlich. Er nimmt mein Kinn in seine große Hand, als wäre ich wieder ein Kind, und wischt mit dem Daumen die Tränen weg. »Aber es hat nichts mit dir zu tun.«
    »Womit denn sonst?«, schluchze ich, unsicher, ob ich um mich, um Helen oder um die Mutter weine, die ich nie hatte.
    »Wenn ich dir davon erzählt hätte, würde das weiterhelfen?«, fragt mein Großvater.
    Wieder legt er die Arme um mich. Ich ringe mit meinem Ärger, der sich aber vielleicht gar nicht gegen ihn richtet. »Sie war mein kleiner Liebling«, sagt er, »aber sie war auch ein seltsames Mädchen.« Ich höre ihn langsam atmen, als sammele er seine Gedanken, sortiere seine Worte und versuche sein Bestes, um einen Weg zu fingen, es zu erklären. »Allie war ziemlich aufgeweckt, ja, das war sie, aber sie hatte auch Probleme. Heutzutage hätte so was einen klangvollen Namen. Vielleicht wüsstest du sogar, was es ist.«
    Ich richte mich auf und sehe ihn an. »Du meinst, eine psychiatrische Angelegenheit?«
    Mein Großvater nickt, seine Augen blicken traurig. »Als kleines Mädchen war sie süß wie Zucker. Doch als Allie größer wurde, hatte sie immer öfter solche Zustände, dann sprach sie nicht und sah traurig aus und niemand konnte zu ihr durchdringen, nicht mal Helen.«
    Der Gedanke, dass es Helen nicht möglich gewesen sein soll, zu jemandem durchzudringen, macht uns beide traurig. Wir schweigen eine Minute.
    »Einmal hat sie ein ganzes Fläschchen Pillen geschluckt«, sagt er sanft. »Deine Mutter hat sie in ihrem Zimmer gefunden. Dabei war sie wirklich klug. Hatte in der Highschool nur die besten Noten, nur die schwierigsten Fächer.« Ein Lächeln huscht über sein Gesicht. »Ich weiß gar nicht, von wem sie das hatte.« Er lacht sein Pulkowski-Lachen, aber nur kurz. »Dann ist sie in eine Gruppe Jugendlicher hineingeraten, das waren – wie würdest du sie nennen?« Pulkowski runzelt die Stirn. »Hippies, vermute ich. Dabei schien sie sie nicht wirklich zu mögen. Der einzige Freund, an dem sie je wirklich hing, war der Junge aus dem Schulbus.«
    »Johnny Bellusa?«
    Ein ernstes Nicken bestätigt, dass mein Vater tatsächlich der Junge aus dem Schulbus war.
    »Sie sprach ständig mit ihm. Jeden Abend. Am Telefon. Oder in seinem Auto, vor dem Haus.«
    »Mochtest du ihn?«, frage ich und weiß, dass ich rührselig klinge, wie ein kleines Kind, das sein neues Fahrrad jemandem vorführen will. Mein Großvater antwortet nicht.
    »Deine Mutter hat versucht, Hilfe für Allie zu holen, als sie mit dir nach Hause kam. Sie wollte, dass sie an einer Therapie in einem Krankenhaus für Jugendliche teilnimmt, Jugendliche mit …«
    »Psychischen Problemen«, beende ich
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