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Schöne Khadija

Schöne Khadija

Titel: Schöne Khadija
Autoren: Gillian Cross , Tanja Ohlsen
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»Dreh den Globus, mein Junge«, pflegte mein Vater zu sagen. »Gut. Und jetzt gib mir deinen Finger.«
    Er hielt ihn in die Luft und als der Globus sich langsamer drehte und die verschwommenen Konturen der einzelnen Länder deutlicher wurden – stach er plötzlich zu.
    Und er traf nie daneben. Jedes Mal, wenn die Welt mit einem Knirschen zum Stillstand kam, saß mein Finger genau am Horn von Afrika, genau an der Stelle, wo die Buchstaben um die Küste liefen.
    SOMALIA.
    »Da!«, rief mein Vater. »Da gehörst du hin!«
    Und ich betrachtete die zerrissene, schartige Form und dachte an Kriegsherren und Piraten. An Kinder, die mit Kalaschnikows über der Schulter die Straßen entlangliefen. Gepanzerte Wagen mit Maschinenpistolen und Männer, die auf dem Waffenmarkt von Mogadischu um Munition feilschten.
    Um an einem solchen Ort zu überleben, muss man stark sein. Man braucht eine starke Familie, die einen unterstützt, und man muss stolz sein auf seine eigene Identität. Genau dafür sind wir Somalis bekannt – sogar hier. Die Leute sehen, dass wir an der Schule füreinander einstehen und sagen: Ärgere ihn nicht, das ist eines von den Somalia-Kindern.
    Das sitzt ganz tief in mir drin. Jedes Mal, wenn ich einen Globus sehe, jedes Mal, wenn ich den Namen meines Heimatlandes lese oder es auf einer Karte sehe, steigt ein unbeschreibliches Gefühl in mir hoch. Ich denke dann immer: Das bin ich. Da komme ich her.
    Mein Vater hat mir den Weg dorthin gezeigt; Dutzende Male, mit dem Finger über dem Globus. Du fliegst nach Dubai oder Dschibuti. Und dann nimmst du ein Flugzeug geradewegs nach Somalia. Ganz einfach. Das macht man ständig, trotz der Gefahr und der Waffen. Somalis aus der ganzen Welt kehren zurück, um ihre Familien zu Hause zu besuchen.
    Nur ich nicht. Ich bin noch nie dort gewesen.
     
    Ich wurde in den Niederlanden geboren. Meine Mutter war dorthin geflüchtet, als die Lage in Somalia brenzlig wurde. Und es wurde ganz schön brenzlig, das kann man mir glauben.
    Zuerst gab es einen Diktator, der seinen eigenen Clan begünstigte, sagt Maamo. Er unterdrückte alle anderen – bis die westlichen Länder begannen, am Horn von Afrika mitzumischen. Da brach alles auseinander.
    Und die Kriegsherren übernahmen die Macht.
    Wie es damals war? Nun, man muss sich das so vorstellen, als ob man mitten in einem Computerspiel lebt, nur dass alles echt ist. So stelle ich es mir jedenfalls vor. Alle Gebäude sind zerbombt; wenn man die Straße entlangläuft, explodieren die Granaten, und die Kugeln aus den Maschinengewehren mähen alles nieder, was ihnen in die Quere kommt. Maamo sagt, überall herrschte Gewalt. Und Korruption. Und Chaos.
    Sie war damals mit mir schwanger und mein Vater versuchte verzweifelt, sie irgendwo in Sicherheit zu bringen, aber seine Eltern waren alt und krank und er konnte sie nicht verlassen. Also ging Maamo allein ins Ausland, als Flüchtling. Und mein Vater versprach, zu kommen und sie zu holen, wenn sich das Land wieder beruhigt hatte.
    Aber es beruhigte sich nicht.
     
    Während ich aufwuchs, wohnte mein Vater nie bei uns. Solange ich klein war, kam er uns besuchen und erfüllte das ganze Haus mit Leben und Energie. Er spielte sehr gerne und er liebte es, Geschichten zu erzählen – vor allem über die Streiche, die er und sein bester Freund Suliman anderen als Jungen gespielt hatten.
    Wir wussten nie, wann er zu uns kommen würde. Ich wachte einfach morgens auf und da war er und grinste mich an, wenn ich die Augen aufschlug. Wenn ich heute versuche, mich an diese Besuche zu erinnern, verschmelzen sie alle zu einem einzigen Mal. Ich sehe sein Gesicht und schreie vor Freude auf, wenn er mich aus dem Bett hebt. Dann wirft er mich in die Luft, drei, vier, fünf Mal, und fängt mich mit seinen großen, starken Händen wieder auf.
    »Und ich dachte, du wärst gewachsen!«, sagte er dann. Er neckte mich. »Ich dachte, du seist jetzt groß genug, um dich um Maamo zu kümmern, aber du bist ja immer noch so ein Winzling!«
    »Bin ich nicht!«, quiekte ich. »Miss nach! Miss mich, Abbo!«
    Ich zappelte mich frei und glitt zu Boden, um ihn an die Wand gegenüber zu ziehen, wo wir mich immer gemessen und mein Wachstum mit Strichen angezeigt haben. Die Bleistiftstriche kletterten nach oben wie die Sprossen einer Leiter, eine für jeden seiner Besuche.
    Erst gab es nur Markierungen für mich, aber jetzt stehen drei weitere Leitern neben meiner, je eine für meine drei kleinen Schwestern. Erst Fowsia,
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