Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Seitensprung ins Glück

Titel: Seitensprung ins Glück
Autoren: Mary E Mitchell
Vom Netzwerk:
den Satz für ihn.
    Pulkowski nickt. »Da ging sie.« Er verschränkt die Arme, als versuche er, die Teile von etwas zusammenzuhalten. »Sie hat es geschafft, hat sogar in Oregon irgendeine Ausbildung zur Hebamme gemacht …«
    Ein Wagen mit einem kaputten Auspuff fährt vorbei, doch es ist nicht der Lärm, der mir das Gefühl gibt, dass Eiswasser durch meine Adern jagt. Es ist meine Mutter. Hebamme. Meine biologische Mutter bringt die Kinder anderer Frauen zur Welt, nachdem sie dafür gesorgt hat, dass ein ganzer Kontinent zwischen ihr und mir liegt.
    »Sie hat ein Darlehen aufgenommen und es selbst zurückgezahlt, und sie hat uns sogar Bescheid gegeben, als sie fertig war und arbeitete«, sagt Pulkowski, dem die Tatsache entgeht, dass mein Innerstes am Erfrieren ist, dass meine Muskeln erstarrt und meine Gelenke vor Rost und Kummer steif sind.
    »Aber sie führte nie das, was man ein normales Leben nennt. Zumindest nicht nach Helens und meinen Maßstäben. Und sie wollte auch nie« – er macht eine Pause und nimmt meine Hand in seine –, »also, sie wollte nie mehr nach Hause kommen.«
    Dicke Tränen kullern über meine Wangen. In dem Schmerz auf Pulkowskis Gesicht sammeln sich purpurrote Schatten.
    »Ach, Liebes«, sagt er leise. »Soweit wir wissen, hat sie sich nie Hilfe wegen ihrer Probleme geholt. Du siehst also, dass es nicht wirklich Alexa ist, die ihr kleines Mädchen nicht sehen will. Ihre Krankheit hält sie davon ab, es zu wollen.«
    »Sie wird uns also nicht sehen wollen, nie?« Ich schluchze seine Sportjacke voll, nicht sicher, ob ich um mich, um Helen oder um die Mutter weine, die ich nie hatte. Doch Pulkowski kann meine Frage nicht beantworten. Ich weiß das. Er kann mir auf den Rücken klopfen, wie er es gerade tut. Er lässt seine große Hand sanft kreisen. Er kann meine Tränen mit dem Daumen wegwischen. Aber das war die größte Menge an Worten, die wir in unserem ganzen Leben miteinander gewechselt haben. Er hat alles gesagt, was er sagen kann, um mich zu trösten. Und man muss auch nicht die ganze Zeit reden, um jemandem zu sagen, dass man ihn liebt.
    Am nächsten Morgen stehen wir vor einem Grab auf dem Militärfriedhof von Calverton, wo Helen darauf warten wird, dass ihr Herzallerliebster aus dem Zweiten Weltkrieg sich eines Tages zu ihr gesellt. Es ist ein knackig kalter Wintertag, und über uns hängen Schneewolken. Mickey hat den Arm um meine Schultern gelegt. Wir haben jeder nur eine einzelne rote Rose auf Helens Sarg gelegt. Lebwohl, Ma! Als ein junger Soldat anfängt, den Zapfenstreich zu spielen, scheinen Pulkowskis Knie ein wenig nachzugeben. Lebwohl, Miss Muffet! Er verschränkt die Hände wie ein Mann, der nichts hat, an dem er sich festhalten kann. Ich stehe neben ihm und habe den Arm um ihn gelegt. Die ersten Schneeflocken fallen auf die Schultern unserer Wintermäntel und bestäuben die Blumen auf dem glänzenden Holz des Sargdeckels. Ein Priester, dessen Schultern vor Kälte hochgezogen sind, hebt die Hand zu einem letzten Segen für Helen. Ich merke, wie ein Lächeln meine Lippen umspielt. Vermutlich einer von diesen verzogenen Jesuiten, denke ich. Jemand bringt ihm wahrscheinlich seinen Tee und seinen Brandy und wischt ihm sogar noch den Hintern.

EPILOG
Nicht ohne mich
    Am Morgen von Eleanors Auftritt mit der Integrativen Theatergruppe greife ich mir das Telefon und rufe Johnny Bellusa an.
    »Roseanna?«, sagt er, als er meine Stimme hört. »Bist du das?«
    Ich lächle unter meinem Stapel Bettdecken. »Hast du gedacht, ich wäre eine deiner Freundinnen?«
    »Da haben wir’s«, lacht er. »Du redest genau wie deine Mutter.«
    »Es tut mir leid, dass wir nicht zusammen essen konnten«, sage ich zu ihm.
    »Und mir tut das mit deiner Großmutter leid. Wie kommt Mr Pulkowski denn klar?«
    »Er ist im Nachbarzimmer, falls du mit ihm sprechen möchtest. Er ist bei uns, seit sie gestorben ist. Soll ich ihn dir geben?«
    Am anderen Ende herrscht ein kurzes Schweigen. »Oh, nein«, sagt Johnny. »Ich wüsste gar nicht, was ich nach all den Jahren zu ihm sagen soll.«
    »Er weiß, wo Alexa ist. Er hat sie hin und wieder gesehen.«
    »Tatsächlich?«
    Ich erzähle es ihm. Ich wiederhole alles, was Pulkowski mir in Bezug auf Alexas Aufenthalt erzählt hat, obwohl ich mich frage, warum ich das tue. Klar, dass ich immer noch auf ein märchenhaftes Ende der unglücklichen Romanze meiner Eltern hoffe – der Zimmermann und die Hebamme eilen von ihrer jeweiligen Küste herbei, um endlich
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher