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Schweigenetz

Titel: Schweigenetz
Autoren: Kai Meyer
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Verlegers hat immer sehr viel Geld in dieses Unternehmen investiert – um letztendlich noch mehr herauszuholen. Ich muss Ihnen nicht die Grundsätze erfolgreicher Unternehmenspolitik erklären. Ich bin kein Journalist, sondern Geschäftsmann. Sie und Ihre Kollegen in diesem Haus sind – und ich bitte Sie erneut, meinen Ausdruck zu verzeihen – Maschinen. Auf der einen Seite stecke ich Geld hinein, auf der anderen kommt eine Menge mehr wieder heraus. Damit haben wir Erfolg. Schauen Sie sich um. Bisher gehören uns neun Etagen dieses Gebäudes. Bis zur Jahrtausendwende ist das gesamte Haus in unserem Besitz.«
    Carsten sah, wie Martin ihm von der Seite ein Grinsen zuwarf, aber er war nicht in der Stimmung, es zu erwidern. Von Heiden war kein Mann, der grundlos protzte. Das, was er sagte, hatte System. Nicht was, verbesserte er sich, sondern wie er es sagte.
    »Sehen Sie«, fuhr der Verlagsleiter fort, als er sein Zögern bemerkte, »ich bin bereit zu einem weiteren Zugeständnis. Helfen Sie mit, dieses Blatt zu etablieren, und ich verspreche Ihnen, dass wir Sie nach einer Weile hierher zurückholen werden. Hier ins Haus. Darauf gebe ich Ihnen mein Wort.«
    Carsten überlegte noch, was er darauf erwidern sollte, als von Heiden sich von seinem Stuhl erhob und Nawatzki wie auf ein stummes Kommando das Gleiche tat.
    »Überlegen Sie sich unser Angebot. Ihre Entscheidung hat noch ein, zwei Tage Zeit. Ich würde mich freuen, wenn wir Sie dann als Mitarbeiter unseres Verlages begrüßen könnten.«
    Carsten und Martin standen gleichzeitig auf. Carsten bedankte sich bei von Heiden und versprach, sich zu melden.
    »Tun Sie das«, sagte der Verlagsleiter, schüttelte seine Hand und führte die beiden zur Tür. Nawatzki blieb zurück.
    Die Sekretärinnen blickten kurz auf und strahlten ihr Jil-Sander- Lächeln, als sie grüßend an ihnen vorübergingen. Martin brachte ihn mit dem Lift nach unten.
    Draußen erreichte das Gewitter seinen ersten Höhepunkt.
    Die meisten Menschen, die vor und hinter ihm in die U-Bahn drängten, waren vor dem prasselnden Regen geflohen. Kleidung und Haare waren klatschnass. Carsten verzichtete auf einen der letzten freien Sitze und bot ihn einer älteren Frau an. Zum Dank schüttelte sich ihr triefender Hund gleich neben seinem Fuß.
    Mit einem Rumpeln setzte sich die Bahn in Bewegung. Die Menschen wurden aneinandergedrückt. Der träge Geruch von Feuchtigkeit vermischte sich mit dem Gestank der Tunnel.
    Er sah Sandras Gesicht vor sich und erinnerte sich an ihren letzten Brief. Das war vor fast zwei Monaten gewesen. Eine Seite in ihrer feinen, ziselierten Handschrift. Das Übliche hatte darin gestanden. Ihr Mann war arbeitslos, sie selbst jobbte in einem Geschäft. Demnächst sollten Wasserzähler in der Wohnung angebracht werden. Die Miete war gestiegen. Alltagskram. Früher hatte sie über andere Dinge geschrieben.
    Sandra.
    Er war fünfzehn gewesen, als seine Eltern ihm eröffneten, die ganze Familie würde das Weihnachtsfest bei Verwandten in Leipzig verbringen. Sie betonten ganze Familie. Himmel, hatte er sie dafür gehasst. Damals kannte er Ostdeutschland nur aus James-Bond- Filmen. In Gedanken sah er sie bereits alle in russischen Kerkern schmachten.
    Das war 1979 gewesen.
    Er machte den großen Fehler, seinen Freunden sein Leid zu klagen. Schadenfroh erzählten sie von Sowjetflaggen statt Christbaumkugeln. Albernheiten, die ihn damals zur Verzweiflung trieben. Aus hilflosem Trotz kaufte er seinen Eltern kein Weihnachtsgeschenk.
    Der Grenzübergang war ein Abenteuer und als solches akzeptabel. Er sah bewaffnete Soldaten, Wachtürme und kilometerlangen Stacheldraht. Einen Moment lang fühlte er sich sehr überlegen. Dann schaute einer der Grenzwächter zu ihm ins Auto, musterte ihn misstrauisch. Lizenz zum Töten, dachte Carsten und fühlte sich plötzlich sehr allein auf seiner Rückbank.
    Zuhause hatte der Wetterbericht für die Feiertage Regen vorhergesagt. Um so überraschter war er, als sie jenseits der Grenze eine dichte Schneedecke vorfanden. Seine Eltern schwärmten und sagten Wie schön! Er erwiderte finster, das mache die Nähe Sibiriens.
    Dann sah er die Stadt, die Häuser und die Kleider der Menschen. Sie fuhren durch eine Vorstadt aus grauen Plattenbauten, und das senkte sogar die Stimmung seiner Eltern. Wie schön!, sagte jetzt keiner mehr. Carsten fühlte sich in all seinen Vorahnungen bestätigt. Der Cousin seines Vaters wohnte in einem kleinen Einfamilienhaus am Stadtrand.
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