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Odessa Star: Roman (German Edition)

Odessa Star: Roman (German Edition)

Titel: Odessa Star: Roman (German Edition)
Autoren: Herman Koch
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1
    Max G. hatte einen schwarzen Kater, der einen schon ansprang, wenn man nur zur Tür hereinschaute. Er war groß und fett, einige Kilo schwerer als alle, die ich danach noch auf dem Schoß gehabt hatte. Auf dem Schoß hatte ich ihn übrigens nur ein einziges Mal: Ich erinnere mich noch sehr gut, dass mir der kalte Schweiß ausbrach, als er sich genüsslich räkelte und mir eine Pfote aufs Knie legte. Durch die Jeans hindurch spürte ich die Krallen, aber zum Aufstehen war es da schon zu spät.
    »Bleib ganz ruhig sitzen«, sagte Max. »Wenn du dich nicht bewegst, tut er dir nix.«
    Ich war gerade aus Curaçao zurückgekommen, wo ich ein paar wichtige Entschlüsse gefasst hatte. So würde ich mir einen neuen Freundeskreis zulegen. Der alte hatte nämlich längst ausgedient. Natürlich lag das vor allem am großen räumlichen Abstand und an der simplen Tatsache, dass auf Curaçao nichts, aber auch rein gar nichts los war, jedenfalls hatte ich es an einem jener heißen, einschläfernden Nachmittage, an denen die Ventilatoren in der Bar am Schottegatweg langsam zum Stillstand zu kommen schienen, plötzlich ganz klar und deutlich vor mir gesehen: Der alte Freundeskreis musste weg. Wie der neue aussehen würde, davon hatte ich dort auf Curaçao nur eine verschwommene Vorstellung, wie von einem Stück Land, das nach monatelanger Fahrt auf offener See am Horizont aus dem Nebel auftaucht. Der neue Freundeskreis befand sich sozusagen noch im Entwurfsstadium – aber dass Max G. dazugehören würde, das stand fest.
    Der Kater auf meinem Schoß gab Laute von sich, die mir durch Mark und Bein fuhren. Sie schienen von weit her zu kommen, wie von einem Heizkessel, der tief im Keller eines Apartmenthauses ansprang. »Er tut nichts«, sagte Max. »Brav, brav!« Das Grollen wurde stärker, ich spürte es bis in die Zehenspitzen, von wo es sich dann wieder langsam aufwärtszubewegen schien.
    Ich war mir nicht sicher, ob ich ihn streicheln sollte oder ob gerade das einen Generalangriff auslösen würde; ich sah schon vor mir, wie er mir sämtliche Krallen seiner vier Pfoten gleichzeitig ins Gesicht schlug: zwei in die Unterlippe, eine ins Augenlid, eine in die Haut direkt unter dem Auge und den Rest in die Kopfhaut und Wangen. Wenn ich ihn dann mit aller Kraft wegstoße – ein zischendes und fauchendes Knäuel Weißglut –, zerfetzt er mir die Lippe und das Augenlid, eine Kralle ritzt mir den Augapfel auf. Mit einem dumpfen Schlag prallt er gegen die Wand, ist aber gleich wieder auf den Beinen und setzt erneut zum Sprung an, fauchend und knurrend, um mich gänzlich fertigzumachen.
    Max war aufgestanden. Bis auf seine weißen Turnschuhe war alles an ihm schwarz: Haar, Hemd und Hose – schwarz waren auch die Wände des Zimmers, der Fußboden, der Kater …
    »Brav, brav, brav!«, sagte er.
    Das Spiel, das Max regelmäßig mit seinem Kater spielte, bestand darin, vom Flur aus den Kopf um die Ecke des Zimmers zu stecken und ihn wieder zurückzuziehen. Der Kater saß im Zimmer auf den Holzdielen und behielt die Bewegungen scharf im Auge, legte den Kopf abwechselnd schrägnach links und nach rechts. Äußerlich war ihm kaum etwas anzumerken, nur an dem kräftigen Schlagen des Schwanzes konnte man erkennen, dass ihn jetzt nichts mehr aus der Konzentration bringen würde. Er folgte Max’ Kopf mit den Augen, wie ein Kind im Karussell dem hüpfenden Wedel oder der Feder folgt, die der Schaubudenbesitzer an einer Schnur auf und ab bewegt und die dem, der sie ergattert, eine Gratisrunde beschert.
    Für den Kater kam alles auf das richtige Timing an, denn hinter dem Auftauchen und Verschwinden des Kopfes musste sich eine gewisse Logik verbergen. So ähnlich würde er sich auch an einen Vogel heranschleichen: Auch den musste man in Sicherheit wiegen, ihn glauben machen, man sonne sich nur unter ihm auf dem Rasen, man interessiere sich gar nicht für ihn, und wenn man etwas näher komme, dann nur, um an den Gänseblümchen zu schnuppern.
    Das Muskelanspannen dauerte letztendlich weniger als eine Zehntelsekunde und war mit dem bloßen Auge kaum zu erkennen. Dort, wo er eben noch gesessen hatte, war eine leere Stelle. Wie aus dem Nichts befand er sich plötzlich wenige Zentimeter von Max’ Kopf entfernt. Ein knurrendes, fauchendes Geräusch mitten im Sprung war die einzige Warnung. Für Max bestand die Kunst darin, den Kopf so schnell zurückzuziehen, dass der Kater knapp an ihm vorbeiflog und mit einem dumpfen Schlag an der gegenüberliegenden
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