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Schweigenetz

Titel: Schweigenetz
Autoren: Kai Meyer
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innig. Zum einen hielt das die Miete so niedrig, dass er sich die beiden Zimmer unterm Dach trotz finanzieller Nöte leisten konnte; zum anderen schaffte es ein Vertrauensverhältnis, wie er es nie zuvor erfahren hatte. Er sprach mit ihr über alles und hatte dabei nie das Gefühl, ihre Geduld zu missbrauchen. Im Gegenzug hörte er sich ihre Geschichten über Bekannte an, mit denen sie sich regelmäßig bei Kaffee und Kuchen traf.
    Elisabeth war eine begnadete Geschichtenerzählerin. Er teilte ihr Bedauern, dass sie niemals Kinder gehabt hatte; an ihr war eine wunderbare Großmutter verlorengegangen.
    Jetzt eilte sie durch die geräumige, mit wertvollen Antiquitäten eingerichtete Diele und verschwand in der Küchentür. Als Carsten ihr folgte, stand das gefüllte Sherryglas bereits auf dem Tisch.
    Das Haus beherbergte zahllose Zimmer, unter anderem eine Hand voll kleinerer und größerer Salons, in denen noch Jahrzehnte zuvor gesellschaftliche Empfänge an der Tagesordnung waren. Im Gegensatz zu ihren Vorfahren zog Elisabeth es vor, ihren Tee in der Küche zu nehmen. Die meisten der früheren Empfangsräume kannte Carsten nur vom flüchtigen Hineinsehen. Er nahm an, dass es ihr selbst nicht viel besser ging. Abgesehen von Kaffeekränzchen empfing sie kaum noch Besuch.
    »Sie haben mir einen Job angeboten«, sagte er, nachdem sie ihm gegenüber Platz genommen hatte. Das karierte Wachstuch auf dem Tisch stand im Widerspruch zu den stilvollen Küchenmöbeln.
    »Das scheint Sie nicht besonders zu freuen«, stellte sie fest und nippte an ihrem Glas. Sie wusste so gut wie er selbst, dass ihn die gelegentlichen Aufträge als freier Journalist nur notdürftig über Wasser hielten. Eine feste Anstellung hätte viele Probleme gelöst.
    »Die Stelle, die sie mir geben wollen, ist nicht hier in Frankfurt.«
    »Nicht?«
    »Sie suchen Redakteure für eine Zeitung im Osten. Im Harz.«
    Er versuchte, ihre Gedanken aus ihren Augen abzulesen, doch falls sie seine Worte in irgendeiner Weise berührten, so zeigte sie es nicht. Sie hatte ihm die Zimmer nicht wegen des Geldes vermietet; es war die Einsamkeit, die ihr zu schaffen machte. Das Alleinsein war vielleicht das Einzige, wovor Elisabeth Caspersen wirkliche Angst hatte. Sollte er aus Frankfurt fortgehen, wäre das auch ein Einschnitt in ihrem eigenen Leben. Dass sie ihm nicht sofort davon abriet, rechnete er ihr hoch an. »Der Harz ist wunderschön«, sagte sie statt dessen. »Ich war oft dort, noch vor dem Krieg. Eine herrliche Gegend, wie ein riesiger Märchenwald. Kennen Sie den Harz?«
    Er schüttelte den Kopf.
    »Sie sollten mal hinfahren.«
    »Eben das ist das Problem.«
    Sie lächelte. »Sie haben sich also noch nicht entschieden?«
    Er trank den Sherry aus und warf ein paar Stücke Kandis in sein Teeglas. »Ich habe damit gerechnet, dass sie mich hier in Frankfurt behalten wollten.«
    »Aber es wäre eine Chance, oder?« Als die Sache in Heidelberg passierte, war Elisabeth es gewesen, die ihn so weit aufgerichtet hatte, dass er wieder arbeiten konnte. Andere hatten ihm davon abgeraten, doch er hatte auf Elisabeth gehört. Ihr war es zu verdanken, dass er damals nicht übergeschnappt war. Wenn sie nun das Wort Chance benutzte, wusste sie, wovon sie sprach.
    »Vielleicht«, sagte er.
    »Haben Sie eine andere Wahl?«
    »Ich könnte hierbleiben und weitermachen wie bisher.«
    »Wir wissen beide, dass Sie das nicht wollen. Man sieht Ihnen schon von weitem an, wie mies Sie sich fühlen.«
    »So schlimm?«
    Sie hatte ihn niemals angelogen. »Ja«, sagte sie.
    »Und Sie glauben, dort drüben ginge es mir besser?«
    Sie hob die Schulter. »Wer weiß? Eine neue Aufgabe hat noch keinem geschadet. Sie werden ein paar andere Gesichter kennenlernen, mehr Geld verdienen.«
    Viel mehr Geld, wollte er sagen, ließ es aber bleiben. »Vor allem werde ich mit Kohle heizen«, seufzte er.
    »Haben Sie schon daran gedacht, Sandra zu besuchen?«
    Einen Moment lang blieb er still und horchte auf den tropfenden Wasserhahn. Schließlich nickte er. »Dafür muss ich nicht dorthin umziehen.«
    »Es wäre ein Anlass, oder?«, sagte sie.
    Damals, als sie fast noch Kinder waren, hatte Sandra ihm das Versprechen abgenommen, ihr keine Besuche mehr abzustatten. Damals dachte sie noch nicht an eine Heirat, und Heidelberg lag in ferner Zukunft. Die räumliche Kluft zwischen ihnen schien unüberbrückbar. Später, im Herbst '89, hatte er für eine Weile mit dem Gedanken gespielt, zu ihr nach Leipzig zu fahren.
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