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Schweigenetz

Titel: Schweigenetz
Autoren: Kai Meyer
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Es gab weder Telefon noch Ölheizung. Die Toilette befand sich in einer kleinen Kabine im Garten, und der Fernseher empfing nur DFF eins und zwei, noch dazu in Schwarzweiß. Vor dem Haus stand ein aschgrauer Trabant. All das kümmerte Carsten nicht mehr, als er Sandra kennenlernte. Sie war die einzige Tochter seiner Verwandten, seine Cousine um zwei Ecken. Sie war ein Jahr jünger als er selbst. Vierzehn.
    Zur Begrüßung trat sie vor und schüttelte ihm artig die Hand. Das Erste, was ihm auffiel, war ihre Art, sich zu bewegen. Ihr Gang hatte das gewisse Etwas, das er von Mädchen ihres Alters nicht kannte. Damals war schweben das einzige Wort, das ihm einfiel. Mit fünfzehn klang es wie Poesie.
    Ihr Haar war dunkelbraun und fiel glatt bis weit auf den Rücken. Die Augen leuchteten grünlich, und zum ersten Mal beachtete er die langen Wimpern eines Mädchens. Sie hatte ein fröhliches Gesicht, sehr hellhäutig, mit kleinen Grübchen, wenn sie lächelte. Erst viel später fiel ihm auf, wie weiß ihre kleinen Zähne waren. An den Ohren trug sie scheußliche Clips in Form zweier Kirschen.
    Sandra war sehr schlank, mit feingliedrigem Körperbau. Später erzählte sie ihm, dass sie eine staatliche Sportschule besuchte und auf eine Karriere als Athletin vorbereitet wurde.
    Seine Eltern hatten ein großes Paket mit Lebensmitteln, Kleidung und Schallplatten gepackt, aber falls sie erwartet hatten, dass sich sein Onkel und seine Tante (er nannte sie so der Einfachheit halber) gleich darüber hermachen würden, so hatten sie sich getäuscht. Sie bedankten sich herzlich und stellten es vorerst beiseite. Nur den Kaffee packte seine Tante aus, um ihn zur Begrüßung zu kochen. Dazu gab es selbstgebackenen Kuchen.
    Carsten brachte das Kunststück fertig, gleichzeitig zu essen, die Fragen von Onkel und Tante zu beantworten und Sandra im Auge zu behalten. Selbst die Art, wie sie ihre Gabel hielt, fand er großartig. Manchmal, während ihre Augen von einem zum anderen zuckten, kreuzten sich ihre Blicke. Er beeilte sich dann, einen Krümel auf seinem Teller oder die Erwachsenen anzustarren. Aus den Augenwinkeln glaubte er zu sehen, wie Sandras Mundwinkel sich spöttisch verzogen, ganz leicht nur. Ihr Lächeln streifte ihn wie ein heißer Luftzug. Er spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss. Knallrot. Auch das noch.
    Er fragte sich, wie er die Weihnachtstage überstehen, wie es weitergehen sollte.
    Sandra kannte schon damals die Antwort.
    Die U-Bahn hielt mit einem infernalischen Kreischen und spuckte ihn hinaus auf den Bahnsteig. Trotz der Hitzewelle der vergangenen Woche fegte ein eisiger Windstoß aus dem Tunnel und trieb den Lärm ferner Bahnen vor sich her. Fröstelnd zog Carsten seinen Mantel enger.
    Schon auf der Treppe peitschte ihm der Regen ins Gesicht. Es donnerte. Er hatte Glück; das einzige Taxi weit und breit stand direkt am Eingang. Er stieg ein und nannte dem Fahrer seine Adresse. Die Scheibenwischer hatten den prasselnden Wassermassen wenig entgegenzusetzen, die Scheinwerfer entgegenkommender Wagen verschwammen zu glitzernden Schlieren.
    Vor der Haustür brauchte er eine Weile, bis er den richtigen Schlüssel fand. Als er ihn endlich ins Schloss steckte, wurde die Tür von innen aufgerissen.
    »Herr Worthmann, wie sehen Sie denn aus?«
    Er trat ins Trockene, stampfte Wasser von seinen Schuhen und wischte sich die Nässe aus den Augen. Elisabeth machte Anstalten, ihm den Mantel abzunehmen, doch er kam ihr zuvor. Beim Vornamen nannte er sie nur, wenn sie alleine waren; im Beisein anderer war seine Vermieterin für ihn Frau Caspersen.
    »War Ihr Termin erfolgreich?«, fragte sie, trat einen Schritt zurück und versuchte, die Antwort aus seinen Zügen zu lesen.
    »Fragen Sie mich was Leichteres.«
    Sie schüttelte mit großmütterlicher Missbilligung den Kopf, dann lächelte sie. »Na, kommen Sie erst mal in die Küche. Ich war gerade dabei, Tee zu kochen. Vorweg einen Sherry?«
    »Gerne.«
    Er schätzte sie auf Mitte sechzig. Ihr wahres Alter hatte sie ihm nie verraten, und er hatte nicht danach gefragt. Sie hatte viel von ihrer einstigen Eleganz bewahrt, es fiel nicht schwer, sich vorzustellen, wie sie vor dreißig Jahren gewirkt haben mochte. Noch heute war sie eine grande dame im wahrsten Sinn. Carsten hatte sie nicht ein einziges Mal in einer Schürze oder mit Haarnetz erlebt, trotz ihres Hangs zur Häuslichkeit. Sie kochte fantastisch, hasste die Überbleibsel ihrer Verwandtschaft und liebte Carsten heiß und
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