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Schweigenetz

Titel: Schweigenetz
Autoren: Kai Meyer
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vorzugreifen.«
    Carsten nickte stumm. Der Korridor schien kein Ende zu nehmen. Nach zwanzig Metern bogen sie um eine Ecke, ließen die Glaswand hinter sich. Rechts und links passierten sie Türen, viele davon standen offen. Verlagsangestellte saßen an ihren Schreibtischen, hämmerten auf Tastaturen und tranken literweise Kaffee. Männer mit weißen Hemden, Manschetten und dezenten Krawatten huschten an ihnen vorüber. Die Frauen trugen Röcke und farbige Blusen. Niemand war hier unter vierzig. Carsten kam sich mit einem Mal sehr jung vor.
    »Wo liegt die Redaktion?«, erkundigte er sich.
    »Im Zweiundzwanzigsten bis Fünfundzwanzigsten. Das hier gehört alles zur Geschäftsleitung.« Martin grinste. »Ich komme nur hoch, wenn es sich nicht vermeiden lässt. Wenn von Heiden oder sonst jemand mich sprechen will.«
    »Wird der Verleger dabei sein?«
    Martin lachte leise und schüttelte den Kopf. »Überschätze dich nicht. Er verbringt seine Tage beim Golf und auf Regierungsempfängen. Hin und wieder tobt sein Sohn durch die Büros, verkündet den Willen unseres Herrn und Meisters und sorgt für die gebührende Unruhe. Aber in der Regel ist es von Heiden, der das Sagen hat. Zumindest uns Normalsterblichen gegenüber.«
    Carsten fand, dass Martin sein Licht zu sehr unter den Scheffel stellte. Als Chefredakteur der drittgrößten Tageszeitung Deutschlands wurde er von einer imposanten Reihe großer Namen aus Wirtschaft und Politik umworben.
    »Wie viele Stockwerke sind vom Verlag belegt?«
    »Neun, demnächst zehn«, sagte Martin. Es lag kein Stolz in seiner Stimme. Er identifizierte sich mit seinem Blatt, nicht mit dessen Herausgeber.
    »Gemietet oder gekauft?«, erkundigte sich Carsten.
    Martin lachte wieder. »Hundertprozentiger Immobilienbesitz. Von Heiden wird dir mehr dazu sagen. Stockwerke sind für ihn wie Schulterstreifen beim Militär. In diesem Haus wird Erfolg in Etagen gemessen.«
    Sie betraten ein großes hellerleuchtetes Vorzimmer. Zwei Sekretärinnen residierten hinter riesigen Schreibtischen. Kostspielige Kostüme, künstliche Sonnenbräune. Carsten roch schon beim Eintreten den Preis ihrer Parfüms.
    Wände und Einrichtung waren weiß, durchsetzt mit unauffälligem Beige. Geschmackvoll. Keine moderne Helligkeit im Yuppie-Look, vielmehr der Stil einer Firma, die Jahr für Jahr enorme Reichtümer erwirtschaftete, irgendwo zwischen dezentem Verstecken und verhaltenem Zeigen.
    Martin strahlte die beiden Frauen an und stellte ihn vor. Carsten bemühte sein einnehmendstes Lächeln; er hatte den Eindruck, dass es von den Frauen abprallte und als schale Reflektion zurückgeworfen wurde. Das Make-up der beiden war zu perfekt, um wirklich zu sein.
    »Herr von Heiden erwartet Sie schon«, sagte die eine und führte sie zu einer zweiflügeligen Tür. Die andere versank in der Lektüre einiger Akten.
    Die Frau klopfte und huschte hinein. Einen Augenblick später bat sie Carsten und Martin einzutreten. Sie schloss die Tür hinter ihnen.
    »Herr Worthmann, schön Sie zu sehen«, sagte Gerald von Heiden und kam mit zügigen Schritten hinter seinem Schreibtisch hervor. Auch er hatte die kerngesunde Gesichtsfarbe seiner Angestellten. Unter buschigen Brauen schimmerten blassblaue Augen, fast ein wenig milchig im Kontrast zu seiner Sonnenbräune und dem nussbraunen Haar. Er mochte Mitte fünfzig sein, doch seine Haut war straff und der Hals sehnig. Carsten vermutete unter dem graublauen Anzug einen durchtrainierten Körper. Der dunkle Teint war weder Folge eines Urlaubs noch angebackene Studiobräune. Von Heiden war einer jener Menschen, die von Natur aus gut aussahen. Beneidenswert. Sein Lächeln war herzlich, der Druck seiner Hand kraftvoll und von präzise geplanter Dauer. Carsten konnte sich nicht erinnern, jemals einen Menschen getroffen zu haben, der sich so perfekt unter Kontrolle hatte. Er war beeindruckt.
    Hinter von Heiden kam ihnen ein zweiter Mann entgegen, groß und hager. Nicht attraktiv, doch kaum weniger imposant als der Verlagsleiter. Die schmale Nase stach messerscharf hervor, sein Haar war bereits ergraut, obwohl Carsten ihn für jünger als von Heiden hielt; Ende vierzig, vielleicht. Seine Schläfen waren eingefallen, die Ohren hoch und schmal. Im Gegensatz dazu wirkten seine Hände seltsam fleischig und aufgedunsen. Er trug eine schwarze Krawatte mit großen, dunkelroten Punkten. Sie tanzten vor Carstens Augen wie Gummibälle auf Asphalt.
    »Dr. Nawatzki«, stellte Martin ihn vor. Von Heidens
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