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Schweigenetz

Titel: Schweigenetz
Autoren: Kai Meyer
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im Gewirr der Straßen und Plätze verlor.
    Eine alte Frau führte Carsten und Nina bis zum Fuß einer steilen Gasse, die sich am Südhang des Berges hinaufschlängelte.
    »Gehen Sie durch den verfallenen Torbogen«, flüsterte sie. Es klang wie das Wimmern des Windes. »Sie werden ihn erkennen.«
    Tatsächlich fanden sie den Bogen und dahinter einen kleinen Innenhof. Nina blieb draußen stehen. Zwei Mönche sahen auf, als Carsten eintrat. Er bat sie, ihn zu Bruder Jacobus zu führen.
    Sie brachten ihn durch eine getäfelte Halle und entlang eines Korridors in die Bibliothek. Carsten durchquerte eine Reihe hoher Säle, bis zur Decke voll mit alten, schweren Büchern.
    Der Abt erwartete ihn im hinteren Saal. Auf dem Boden neben seinem Tisch stapelten sich braune, in grobes Papier eingeschlagene Pakete, groß wie Schuhkartons, zwanzig oder dreißig. Auf dem Schreibtisch lag ein halbes Dutzend grauer Bände, unscheinbar, mit vergilbten Rändern und verblassten Aufschriften. Sie waren die letzten, die noch in Papier eingeschlagen werden mussten, immer zwei in einem Paket. Carsten las auf den fertigen Päckchen deutsche Adressen. In wenigen Tagen bricht in Deutschland der Sturm los, dachte er.
    »Ich bin bald so weit«, sagte der Abt und fuhr fort, die restlichen Bände zu verpacken.
    »Sie sind nicht überrascht, mich zu sehen«, stellte Carsten fest.
    Jacobus schüttelte den Kopf und lächelte. »Es war mir klar, dass jemand kommen würde. Ich habe gehofft, dass Sie der Erste sein würden. Sie sind nicht allein, oder?«
    »Nein«, erwiderte Carsten. »Nina wartet draußen.«
    »Warum haben Sie sie nicht mit hereingebracht?«
    »Sie wollte nicht.«
    »Ich kann sie verstehen. Sie hat genug von diesen Dingen.«
    »Ja.«
    »Man hat Sie übrigens nicht verfolgt«, sagte der Abt, während er daran ging, das vorletzte Paket zu packen. »Meine Brüder haben das geprüft. Die, die bei mir geblieben sind.«
    »Dann wussten Sie, dass ich in Prag bin?«
    »Seit Ihrer Ankunft«, sagte Jacobus und lächelte milde. »Ich habe viele Kontakte hier in der Stadt, kenne viele Menschen. Hilfsbereite, auskunftsfreudige Menschen.«
    Carsten nickte. Konstantins Leute hatten Nina und ihn tagelang verhört, mal gemeinsam, meist getrennt. Immer wieder dieselben Fragen: Wo sind die Dokumente? Wissen Sie, wo sich die Dokumente befinden? Nein, hatte er ebenso oft erwidert, nein, ich weiß es nicht. Und das war die Wahrheit gewesen. Er hatte es geahnt, gewiss, aber wie hätte er sicher sein können, ohne die Akten mit eigenen Augen zu sehen?
    Jetzt stand er davor, blickte auf den hohen Stapel und empfand nichts dabei. Keinen Triumph, keine Enttäuschung. So also sah etwas aus, für das so viele gestorben waren. Grau, uninteressant, umgeben von altem Papier.
    »Seit wann sind die Dokumente bei Ihnen?«, fragte er.
    Der Abt legte das Paket auf den restlichen Stapel und nahm die beiden letzten Bände zur Hand. »Schon lange. Fenn hat sie auf eigene Faust hierhergebracht. Keiner der anderen wusste davon. Ich denke, es ist an der Zeit, dass ich mich davon trenne und sie ihrem wahren Zweck zukommen lasse.«
    »Sie schicken sie nach Deutschland?«
    »An Zeitungen, Zeitschriften, Fernsehsender. Soll man dort versuchen, sich ein Bild davon zu machen. Es wird eine Menge Aufruhr geben.«
    »Ich wünsche Ihnen viel Glück. Bruder Jacobus«, sagte er.
    Der Abt stand auf und reichte ihm die Hand. »Was werden Sie mit der Zukunft anfangen?«
    »Wir werden sehen«, erwiderte er.
    Jacobus nickte. »Alles Gute dabei, was immer es auch sein mag. Leben Sie wohl.«
    Carsten drehte sich um und ging. Ein letztes Mal sog er den Geruch der Folianten auf, prägte sich das Bild der endlosen Buchreihen ein. Nina wartete auf ihn. Sie saß mit angezogenen Knien im Torbogen, den Rücken gegen die Mauer gelehnt. Der Abendwind zerzauste ihr Haar. Sie wollte es wachsen lassen.
    Was werden wir ihnen sagen?
    Man würde sie fangen und erneut befragen. Um zu verfolgen, zu bestrafen.
    Was werden wir ihnen dann sagen?
    Einen Augenblick lang überlegte er, ob er die Frage laut aussprechen sollte. Dann wurde ihm klar, dass sie nicht hierher gehörte, nicht an diesem Abend. Nicht jetzt, während die Stadt ihr Schlaflied sang und der Wind ihre Gärten mit Flüstern erfüllte.



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