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Schweigenetz

Titel: Schweigenetz
Autoren: Kai Meyer
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Schwärze saugte sie auf wie ein Schwamm.
    Carsten hatte nie aufgehört, sich vor Gewittern zu fürchten, und die Richtung, in der das Gespräch – Nawatzkis Monolog – verlief, trug wenig dazu bei, seine Stimmung zu heben. Er brauchte einen Job, dringend, und nach dem, was passiert war, konnte er es sich nicht erlauben, wählerisch zu sein.
    Er befürchtete, dass das Gewitter bisher nicht einmal wirklich begonnen hatte.
    »Verteilt über den Ostharz besitzt der Harzbote ein Netz von Lokalredaktionen.« Nawatzkis Stimme klang ruhig und überlegen; manche Menschen wurden für leitende Positionen geboren. »Die meisten davon sind noch zu neunzig Prozent mit jenen Redakteuren besetzt, die bereits vor der Wende die Zeitung gestalteten. Sie können sich vorstellen, dass uns dies eingedenk der ideologischen Tendenzen vieler dieser Leute nicht allzu gut gefällt.«
    Von Heiden ergriff ungeduldig das Wort. »Um es kurz zu machen, Herr Worthmann, möchten wir Ihnen einen Redakteurposten in einer dieser Lokalredaktionen anbieten.« Mit einem verständnisvollen Lächeln fügte er hinzu: »Und glauben Sie mir, das ist lange nicht so schlimm, wie es sich im ersten Augenblick anhören mag.«
    Einen Moment lang herrschte Stille, selbst das aufkommende Gewitter verstummte. Carsten war klar, dass alle auf eine Antwort warteten. Sein Problem war, dass er keine Ahnung hatte, was er hätte sagen können. Er musste einen Weg finden, ihnen höflich beizubringen, dass er kein Interesse an einem Umzug in den Harz hatte. In den Osten. Er war dort gewesen, als Jugendlicher, als die Mauer noch stand. Erinnerungen wirbelten durch seinen Kopf. Finstere Häuserzeilen, Werkanlagen und graue Menschen in grauer Kleidung. Er war jung gewesen, damals, und natürlich war dies alles nur ein kleiner Teil der Wahrheit. Er erinnerte sich an etwas anderes. An jemanden.
    Er schüttelte unmerklich den Kopf, um den Gedanken zu vertreiben, und hoffte, dass sie dies nicht als unhöfliche Ablehnung auslegen würden.
    »Nun, als Herr Richtwald mich anrief, dachte ich eigentlich …«
    Von Heiden fiel ihm ins Wort. »… da dachten Sie, dass wir einen Platz hier in Frankfurt für Sie hätten, stimmt's?«
    Er nickte.
    Der Verlagsleiter setzte ein väterliches Lächeln auf, und zu Carstens Erstaunen wirkte es ehrlich. Von Heiden war ein ungewöhnlicher Mensch.
    »Sehen Sie, ich kenne natürlich Ihre Situation.« Er sagte jetzt nicht mehr wir, sondern wählte ganz bewusst den Singular. Vielleicht war von Heiden doch leichter zu durchschauen, als er zuerst angenommen hatte. »Sie müssen mir glauben, dass ich nicht versuche, aus dieser Sache in Heidelberg Kapital zu schlagen. Es geht hier nicht darum, Sie auf irgendeine Weise unter Druck zu setzen. Fakt ist, wir brauchen im Osten fähige Journalisten. West -Journalisten. Leute, die graben können, Leute, die sich in Geschichten verbeißen. Jemanden wie Sie.«
    O ja, und wohin hatte das beim letzten Mal geführt?
    Von Heidens Stimme klang jetzt eindringlicher, sperrte Nawatzki, Martin und sogar das Gewitter aus. »Was wir dort drüben vorgefunden haben, reicht nicht aus, um eine vernünftige Zeitung zu produzieren. Ich mache dieses Angebot nicht nur Ihnen, sondern auch einer Reihe weiterer Kollegen. Journalisten mit Reputation und ohne Ihren – nehmen Sie es mir nicht übel – Makel. Ich sage das nicht, um Sie zu demütigen, sondern nur, um zu beweisen, dass ich Sie nicht auf Grund Ihrer Situation über den Tisch ziehen will. Ich mache Ihnen ein faires Angebot.«
    »Und ein profitables dazu«, mischte Nawatzki sich ein. »Zehntausend Mark im Monat. Zehntausend, Herr Worthmann. Dazu einen Dienstwagen Ihrer Wahl – bis zu einer gewissen Klasse, versteht sich. Außerdem stellen wir die Wohnung.«
    Einen Augenblick lang überlegte Carsten, ob er nun verletzt sein müsse. Sie wollten ihn kaufen. Mit Geld (zugegeben, einer ganzen Menge Geld), einem Auto, einer Wohnung. Er wusste, dass viele auf diese Weise in den Osten gelockt worden waren. Als man nun ihm selbst dieses Angebot machte, erschreckte es ihn.
    Die Erinnerung an damals kehrte zurück. An die zerfallenen Häuser, die jammernden Menschen. Kindheitserinnerungen, sagte er sich. Nur verklärte Erinnerungen.
    »Wie kommt es, dass Sie mir ein solches Angebot machen?«, fragte er.
    Von Heiden lehnte sich in seinem Stuhl zurück, aber sein Blick ließ Carsten nicht für eine Sekunde los. »Dies hier ist ein großer Verlag, Herr Worthmann. Die Familie des
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