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Schweigenetz

Titel: Schweigenetz
Autoren: Kai Meyer
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erschöpft, wie nach mehreren schlaflosen Nächten. Er erhob sich von seinem Stuhl, trat an das riesige Fenster hinter seinem Schreibtisch und öffnete eine Schiebetür. Draußen gab es einen schmalen Balkon, gerade breit genug, dass ein Einzelner darauf stehen konnte.
    Kühle Windböen wehten herein. Der Verlagsleiter blieb im Türrahmen stehen. Er wandte Martin den Rücken zu.
    »Neun Etagen gehören uns«, sagte er. »Eine schöne Leistung, nicht wahr?«
    Martin nickte unsicher. Er hatte von Heiden noch nie in einer solchen Stimmung erlebt. »Allerdings«, meinte er. Er erinnerte sich an das, was er zu Carsten gesagt hatte. Stockwerke sind für von Heiden wie Schulterstreifen beim Militär. Erfolg wird in diesem Haus in Etagen gemessen. Jedes Wort davon war wahr.
    »Herr von Heiden«, versuchte er es noch einmal. »Was die Auflage betrifft …«
    Der Verlagsleiter drehte sich ruckartig um und kam auf ihn zu. Plötzlich lag ein freundliches Lächeln auf seinen Zügen. »Gehen Sie damit zum Verleger. Er wird sich freuen. Vielleicht können wir unseren Termin auf später verschieben. Passt Ihnen halb drei?«
    Martin hob die Schultern. »Das lässt sich einrichten.«
    »Sehr gut«, sagte von Heiden. Er schien mit einem Mal wieder gefasster, ruhiger. Er begleitete Martin zur Tür.
    »Bis später«, sagte er. »Und entschuldigen Sie, dass ich im Augenblick keine Zeit für Sie habe. Es gibt etwas, das ich dringend erledigen muss.«
    Martin verließ das Vorzimmer und fuhr mit dem Lift hinunter in die Redaktionsetage. In seinem Büro warf er sich in den Schreibtischsessel. Dann fiel ihm etwas ein.
    Gehen Sie damit zum Verleger, hatte von Heiden gesagt.
    Der Verleger war im Ausland, seit mehreren Wochen schon. Von Heiden wusste das. Er musste es vergessen haben. Das kam vor.
    Eine halbe Stunde später klingelte sein Telefon. Es war eine von von Heidens Sekretärinnen. Sie erkundigte sich, ob ihr Chef bei ihm sei. Nein, sagte Martin. Das sei seltsam, meinte die Frau, niemand habe ihn gesehen. Er sei nicht mehr in seinem Büro, obwohl weder sie noch ihre Kollegin bemerkt hätten, dass er es verlassen hatte. Unmöglich, sagte Martin, sie säßen doch beide gleich vor seiner Tür. Eben, erwiderte die Frau mit dünner Stimme.
    Martin sprang auf und bewältigte die Distanz bis zum Aufzug im Laufschritt. Die beiden Sekretärinnen standen nervös in von Heidens Vorzimmer und erwarteten ihn.
    »Wo ist Nawatzki?«, fragte er.
    »In seinem Büro. Aber Herr von Heiden ist nicht bei ihm. Er hat mehrere Herren zu Besuch.«
    Martin ließ die Frauen stehen und betrat das Büro des Verlagsleiters. Von Heiden war nicht da. Der Raum war leer. Die Schiebetür stand offen. Der Wind spielte raschelnd mit den Papieren auf dem Schreibtisch.
    Martin durchquerte den Raum mit weiten Schritten, trat auf den schmalen Balkon und sah hinab in die Tiefe. Auf dieser Seite grenzte das Gebäude an eine Parkanlage. Achtundzwanzig Stockwerke tiefer wuchsen hohe, dichte Büsche.
    Neun Etagen gehören uns, hatte von Heiden gesagt.
    Eine schöne Leistung.
    Die Männer begleiteten Nawatzki aus seinem Büro. Es waren drei, alle in dezenten Anzügen, mit dezenten Gesichtern. »Herr Konstantin bittet Sie um eine Unterredung«, hatten sie gesagt.
    Auf dem Gang begegneten sie zwei Männern vom Wachdienst, die aufgebracht an ihnen vorüberstürmten. Sie kannten Nawatzki nicht, zwischen ihnen lag die Hierarchie der Stockwerke. Er hielt sie auf und fragte, was geschehen sei.
    Sie erwiderten, man habe die Leiche eines Mannes gefunden. Unten im Park.
    Jemand aus der Verlagsleitung. Gesprungen sei er oder gefallen. Viel war von ihm nicht mehr übrig.
    Die drei Männer fuhren mit ihm hinunter in die Tiefgarage. Ein Kleintransporter erwartete sie, mit fensterlosem Laderaum, darauf der Schriftzug eines großen Anzeigenkunden. Zwei der Männer stiegen hinten mit ihm ein, der andere setzte sich ans Steuer. Sie fuhren die Rampe hinauf.
    Als sie oben die Schranke passierten, hörte der alte Mann in der Pförtnerkabine ein dumpfes Krachen und blickte von seiner Zeitung auf. Euer Vergaser, dachte er.
    Er las sein Horoskop zu Ende und vergaß Wagen, Fahrer und Geräusch.

Kapitel 7
    Ein kühler Abendwind fauchte von den Zinnen des Hradschin hinab ins Pflasterlabyrinth der Prager Altstadt. In den verwunschenen Gärten, hinter hohen Mauern, wisperten die Blätter und wehten dem Sonnenuntergang entgegen. Der Wind klopfte wehklagend an kleine, dunkle Fenster und zog weiter, bis er sich
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