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Schweigenetz

Titel: Schweigenetz
Autoren: Kai Meyer
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schmerzerfüllten Aufschrei rutschte sie zu Boden.
    Nach unten, aus dem Griff der überraschten Rothaarigen.
    Hinaus aus Sandras Schusslinie.
    Ein zweiter Schuss, mit der anderen Waffe, höher diesmal.
    Sandras Gegnerin begriff einen Sekundenbruchteil zu spät, was geschah. Wie in Zeitlupe riss sie ihre Pistole herum, hoch und nach vorne. Ihr langes rotes Haar flatterte im Wind.
    Dann fraß sich die Kugel in ihre Brust, durchschlug sie und prallte funkenschlagend gegen den Stein in ihrem Rücken.
    Nina rollte sich zur Seite. Die Frau brach neben ihr zusammen, blieb auf dem Bauch liegen. Mit letzter Kraft versuchte Nina sich aufzurichten. Das durchschossene Bein knickte erneut zur Seite, riss sie mit sich. Sandra war bei ihr und fing sie auf.
    »Komm«, sagte sie leise. »Ich helfe dir.«
    Sie legte sich Ninas Arm um die Schulter, und gemeinsam schleppten sie sich davon.
    Da bellte ein weiterer Schuss durch das Unwetter. Sandra schrie auf, Blut spritzte aus einer Wunde an ihrer Hüfte. Etwas schleuderte sie nach vorne. Sie und Nina stürzten gleichzeitig zu Boden.
    Zehn Schritte hinter ihnen verzog sich der Mund der Rothaarigen zu einem Lächeln. Ihre Hand mit der Pistole sackte zu Boden. Mit letzter Kraft hob sie sie erneut, zitternd, um ein weiteres Mal abzudrücken. Doch da hatte Nina bereits Sandras Waffe ergriffen und den Abzug durchgerissen.
    Einmal, zweimal, dreimal.
    Sie feuerte auf die tote Frau, bis das Magazin leer war, selbst dann drückte sie noch weiter ab. Ihre Hände verkrampften sich, ihre Lippen waren zusammengepresst, und sie weinte Tränen, die helle Spuren in den Schmutz auf ihren Wangen malten.
    Nina feuerte noch, als Carsten sie fand, ihr behutsam die Waffe abnahm und ihren Körper an sich drückte. Sie weinten, bis Fenn ihre Namen rief und ihnen sagte, es sei an der Zeit zu gehen. Carsten stützte Nina, Fenn half Sandra beim Gehen. Sie kamen nur langsam voran, und als sie die Bäume hinter sich ließen und hinaus auf das Ödland vor dem Turm traten, erwartete sie Michaelis mit triumphierendem Lächeln und geladenen Pistolen.
    »So also soll es enden«, sagte er. Er stand mit dem Rücken zur Schlucht, gleich am Waldrand. Der Sturm peitschte seinen langen Mantel und verwandelte ihn in schwarze Drachenflügel. Regen jagte ihm von hinten gegen Kopf und Schultern, spritzte sternförmig in alle Richtungen. Von vorne sah es aus, als stände er in einem vorbeirasenden Tunnel aus glitzerndem Wasser.
    Er sagte nicht, sie sollten ihre Waffen fallen lassen. Er verlangte auch nicht, dass sie die Hände hochnahmen. Er drückte einfach ab.
    Nur ein einziges Mal. Die Kugel schlug in eine Pfütze.
    Plötzlich schien es, als packe ihn von hinten eine unsichtbare Faust. Einen Augenblick lang sah es aus, als schwebe er über dem Boden, dann warf ihn etwas nach vorne. Beide Waffen fielen aus seinen Händen und klatschten in den Schlamm. Michaelis fiel auf den Bauch, in ein Meer brauner Pfützen. Blut sprudelte aus einem Loch in seinem Rücken. Er kroch noch einen Meter weit, dann einen zweiten, bis er das nahe Unterholz erreichte. Dort schüttelte ihn ein letzter Krampf, der Fuß zuckte noch einmal, dann blieb er reglos liegen.
    Hinter ihm hob ein brüllender Lärm an, dann erschien etwas wie eine kreischende Riesensense über der Felskante und schwebte langsam empor. Der tarnfarbene Hubschrauber hob sich kaum vom diffusen Hintergrund der Wälder und dem dunklen Himmel ab. Einige Meter über dem Felsrand blieb er in der Luft hängen. In der offenen Seitentür kauerte ein Mann. Das Gewehr, mit dem er auf Michaelis geschossen hatte, richtete sich jetzt auf die vier Überlebenden.
    Hinter ihm erschien ein zweiter, viel älterer Mann, der einen einfachen grauen Mantel und einen Hut trug. Carsten hatte Nawatzki oder von Heiden erwartet, aber es war keiner von beiden.
    Trotzdem kannte er das Gesicht.
    Er erinnerte sich.
    An einen Nachmittag vor elf Jahren. An einen Mann, grau und unscheinbar, der an der Tür seines Elternhauses schellte und um eine Unterredung mit ihm bat. Er sah wieder den Ausweis vor sich, den der Mann ihm zeigte, las seinen Namen.
    Johann W. Konstantin.
    Ein kleines Rädchen in der Maschinerie einer Behörde, für die er einen komplizierten, unwichtigen Namen hatte.
    Neben Carsten riss Fenn seine Waffe hoch und zielte auf den Hubschrauber. Auch er kannte dieses Gesicht. Von Bildern. Von früher.
    »Nein!«, schrie Sandra und versuchte, Fenns Arm herunterzureißen. »Du bringst uns alle um!«
    Ihr
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