Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Schweigenetz

Titel: Schweigenetz
Autoren: Kai Meyer
Vom Netzwerk:
nichts zustößt«, fuhr sie fort. Sie sprach immer leiser.
    Er schüttelte verwirrt den Kopf. »Aber damals war ich noch in Frankfurt und wusste nichts von –«
    »Natürlich nicht«, unterbrach sie ihn. »Es war eine Drohung. Sie hätten dich umgebracht, wenn ich ihnen nicht gehorcht hätte. Einfach so.«
    Er zog sie an sich und presste ihren Kopf an seine Schulter. »Wir sollten das nicht tun«, wisperte sie. »Denk an Nina.«
    Er schüttelte den Kopf. »Das hier ist etwas anderes. Sie wird es nicht missverstehen.«
    Sie hob den Kopf und lächelte durch einen Schleier von Tränen. »Du bist noch immer ein Kind. Wie damals.«
    »Nein«, sagte er, »nicht wie damals. Damals ist vorbei.«
    Sie zuckte sachte mit den Schultern. »Ich will nur, dass du mich verstehst. Alles, was ich dir am ersten Tag hier im Turm gesagt habe, war die Wahrheit. Ich musste es trotzdem tun. Ich musste die anderen verraten, und ich musste Fenn erschießen. Wenn ich es nicht getan hätte, hätten sie uns alle getötet. Sie haben das von mir erwartet, verstehst du?« Sie ruckte herum, als wolle sie damit die Erinnerung und weitere Tränen abschütteln.
    Lange Zeit sagte keiner ein Wort.
    Schließlich fragte er: »Und wie geht es weiter?«
    »Sie werden die Dokumente aus dem Kellerraum bergen und uns von hier fortbringen«, sagte sie.
    Er strich eine dunkle Strähne aus ihrem Gesicht. »Das meine ich nicht.«
    »Ich weiß. Wir werden uns nicht wiedersehen. Sie würden es nicht zulassen. Wahrscheinlich ist es besser so.«
    Sie löste sich aus seiner Umarmung und ging humpelnd zurück zum Hubschrauber. Sie wirkte sehr hilflos, sehr verletzlich, und es brach ihm schier das Herz, zuzusehen, wie sie sich abwandte.
    Er drehte sich um und sah hinüber zum Turm. Die Leichen waren jetzt alle abgedeckt. Er zählte sie. Elf Tote.
    Er brauchte mehrere Sekunden, bis er begriff, was mit dieser Zahl nicht stimmte.
    Einer fehlte. Es hätten zwölf sein müssen.
    Zwölf. Und es waren nur elf!
    Vielleicht hatten sie noch nicht alle gefunden. Sicher, die rothaarige Frau lag irgendwo im Wald. Sie würden später auf sie stoßen.
    Während er näher kam, sah er ihre rote Mähne unter einer der Decken hervorschauen. Er machte einen weiteren langsamen Schritt auf die Leichen zu, dann noch einen, schließlich rannte er los. »Einer fehlt!«, brüllte er. »Um Gottes willen, einer fehlt!« Köpfe fuhren herum. Unverständnis in den Gesichtern der Soldaten.
    Sandras Schrei ließ ihn herumwirbeln.
    Die Zeit blieb stehen.
    Das Unterholz am Waldrand teilte sich. Eine taumelnde Gestalt brach hervor, wie ein großer schwarzer Raubvogel mit gebrochenen Flügeln.
    Michaelis.
    Sein Blick war leer vor Schmerz. Er war so gut wie tot.
    Bevor er starb, drückte er noch einmal den Abzug seiner Waffe durch. Die Kugel traf Sandra. Sie wurde herumgerissen, fiel auf die Knie und sank in den Schlamm.
    Ein Bombardement von Gewehrkugeln riss Michaelis fast in Stücke. Blutüberströmt brach er zusammen. Carsten brüllte Sandras Namen und rannte los. Der Boden schien mit einem Mal so zäh wie geschmolzenes Gummi.
    Er ging neben ihr in die Knie. Sie atmete nicht mehr.
    Carsten schrie. Er schrie und schrie und schrie.
    Er hörte auch nicht auf, als einer der Soldaten durch das Chaos herüberrief, man habe endlich das Schloss der Falltür öffnen können.
    Nicht ein einziges Dokument befinde sich darunter.
    Der Kellerraum war völlig leer.

Kapitel 6
    Martin Richtwald, Chefredakteur im Frankfurter Verlagshaus und Carstens Freund, meldete sich bei von Heidens Sekretärinnen, trat an den Tischen der beiden Frauen vorüber und klopfte an die Tür des Büros. Eine matte Stimme bat ihn herein.
    Der Verlagsleiter saß hinter seinem Schreibtisch und legte den Telefonhörer auf die Gabel; vorsichtig, als könne allein die sanfteste Berührung den Apparat zur Explosion bringen. Seine Gesichtsfarbe hob sich kaum vom grauen Himmel ab, der die Fensterfassade in seinem Rücken füllte. Seine Hände zuckten nervös, als habe er statt mit Martin mit jemand anderem gerechnet. Jemandem, vor dem er Angst hatte.
    »Was wollen Sie?«, fragte er barsch.
    Martin runzelte die Stirn. »Wir haben einen Termin, Herr von Heiden. Es geht um die Auflagenentwicklung, vielleicht erinnern Sie sich. Wir haben seit –«
    »Nicht jetzt«, sagte der Verlagsleiter. Eine deutliche Aufforderung zum Gehen.
    Martin blieb stehen. »Die Entwicklung ist sehr positiv. Sie sollten –«
    Von Heiden schüttelte den Kopf. Er wirkte
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher