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Schweigenetz

Titel: Schweigenetz
Autoren: Kai Meyer
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Kapitel 1
    Martin erwartete ihn am Aufzug; er lächelte, als er Carsten durch die Eingangshalle auf sich zukommen sah, unsicher, ob er ihn umarmen oder seine Hand schütteln sollte. Carsten nahm ihm die Entscheidung ab. Martins Händedruck war immer noch so fest wie früher. Carsten bemühte sich gegenzuhalten, fest, fester. Es war ein altes Spiel zwischen ihnen – ein kindisches Spiel –, und doch schien dies der rechte Augenblick, es hervorzukramen und von neuem zu beginnen. Der Staub der letzten Jahre hatte ihm wenig von seiner naiven Faszination genommen. Martin errötete am ganzen Körper, während seine Finger sich schlossen wie Hummerscheren.
    »Schon gut.« Carsten lachte gequält und zog die schmerzende Hand zurück. Er betrachtete die roten Abdrücke an seinen Fingern. »Du hast gewonnen.«
    »Hast du das bezweifelt?«
    »Für einen Moment.«
    »Vergiss es.«
    Sie kicherten wie zwei kleine Jungs nach einer Partie Armdrücken. Die ältere Frau, die im selben Moment den Lift verließ, bedachte sie mit einem zweifelnden Blick, als sie an ihr vorbeitraten. Martin schob seinen Schlüssel in eine Öffnung unterhalb der Bedienungstafel. Die Kabine sauste nach oben. Martin wirkte noch größer und schwerer, als er ihn in Erinnerung hatte, ein fleischfarbener Berg, Ende dreißig, mit blondem Vollbart und welligem Haar, das sich am Hinterkopf lichtete. Sein Gesicht schimmerte in einem gesunden Farbton, keine Solarium-Bräune; Carsten nahm an, dass er die letzten Wochen irgendwo im Süden verbracht hatte. Er fragte ihn danach.
    »Sri Lanka«, sagte Martin. »Stacheldraht rund ums Hotel, Soldaten am Strand. Viel Sonne.« Er beließ es dabei. Es gab andere, wichtigere Dinge.
    »Wie geht's Frank?«
    Sein früherer Chefredakteur seufzte. »Seit ein paar Monaten tönt er sich die Haare. Fast täglich. Heute Morgen beim Frühstück waren sie noch dunkelrot – wildkirsch, sagt er –, heute Abend sind sie wahrscheinlich blond. Oder aubergine, wer weiß …«
    Carsten nickte verständnisvoll. Martin und Frank lebten seit Jahren miteinander; es freute ihn, dass sich nichts daran geändert hatte. Während der vergangenen zwanzig Monate hatte er Beständigkeit zu schätzen gelernt.
    Martin hatte niemals einen Hehl aus seiner Homosexualität gemacht, ungewöhnlich genug für einen Mann in seiner Position. Es sprach für den Verlag, dass man sich nicht daran störte und ihn mit einem Posten betreut hatte, nach dem sich Tausende von Journalisten die Finger leckten. Carsten war froh, dass man in diesem Haus nicht viel von Vorurteilen hielt. Toleranz war etwas, das er derzeit gut gebrauchen konnte.
    Die Nummern der Stockwerke rasten durch das Digitalfenster oberhalb der Lifttür und erstarrten schließlich als blutrote Achtundzwanzig. Die Tür öffnete sich mit einem Zischen.
    Für einen kurzen, schwindelnden Augenblick glaubte Carsten, dort draußen wäre nichts als dunkler Himmel und die klobige Skyline der Frankfurter City. Dann wurde ihm klar, dass sich zwischen ihm und dem Nichts eine gewaltige Fensterfront befand, ohne Rahmen, ohne Verstrebungen. Fast unsichtbar. Er fragte sich, ob es möglich war, Scheiben dieser Größe zu entspiegeln. Nicht der kleinste Lichtreflex trübte die Illusion eines gähnenden Abgrunds. Selbst der graue Teppich des Korridors verschwamm mit dem trüben Hintergrund.
    Er folgte Martin aus dem Aufzug, immer noch ein wenig schwindelig. Er brauchte mehrere Schritte, um sich völlig zu fassen.
    »Gibst du mir eine ehrliche Antwort?«, fragte Martin.
    »Kommt drauf an, worauf.«
    »Was hast du gedacht, als ich dich angerufen habe?«
    Carsten dachte einen Augenblick nach und schaute erneut hinaus ins Leere. Am Himmel brodelte eine finstere Wolkendecke, nur hier und da durchbrochen von gleißenden Lichtsäulen. Von allen Seiten krochen graue Schatten über die Stadt. Wo die Sonne Löcher ins Dunkel riss, waren die Ränder der Wolken schwarz und ausgefranst wie Brandwunden. Es würde ein Frühlingsgewitter geben. Das erste nach der Hitze der vergangenen Tage.
    Er wandte sich wieder an Martin, um seine Frage zu beantworten.
    »Ich dachte mir, dass du nur die Hälfte sagst. Dass die Sache irgendeinen Haken hat.« Sein Blick schwenkte über die Plexiglasschilder neben den Bürotüren, registrierte gelegentlich einen Namen, der bekannt klang. »Gibt es einen?«
    Martin zuckte mit den Schultern. »Das kommt drauf an. Aber warte ab, was von Heiden zu sagen hat. Ich weiß nicht, ob es gut wäre, ihm
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