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Schweigenetz

Titel: Schweigenetz
Autoren: Kai Meyer
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Doch damals wurden ihre Briefe seltener und kürzer, ihr Inhalt unpersönlicher. Er hatte die Idee fallen gelassen, und Sandra bat ihn auch später nie um einen Besuch.
    »Sie möchten auf gar keinen Fall dorthin, stimmt's?« Diesmal war es nicht schwer gewesen, seine Gedanken zu erraten.
    »Ich weiß es nicht. Wirklich nicht.«
    Er blickte überrascht auf, als Elisabeth ihren Stuhl zurückschob und aufstand. »Ich schätze«, sagte sie, »das ist eine Sache, bei der ich Ihnen nicht helfen kann. Ich wäre voreingenommen, fürchte ich. Es war schön, Sie hier im Haus zu haben, und ich werde Sie vermissen. Aber diese Entscheidung müssen Sie allein treffen.« Sie lächelte wieder. »Großer Gott, ich rede schon, als wäre ich Ihre Mutter.«
    Er grinste. »Das tun Sie immer.«
    »Wirklich?« Ein Anflug von Erstaunen huschte über ihr Gesicht, dann lachte sie. »Na gut, dann sage ich Ihnen, was ich an Ihrer Stelle täte. Ich würde mich ins Bett legen, eine Nacht darüber schlafen und morgen meinem neuen Arbeitgeber erklären, dass ich gehen würde.«
    »Ist das Ihr Ernst?«
    »Sicher.«
    Er überlegte, ob es etwas gab, das er darauf hätte erwidern können. Schließlich trank er einfach seinen Tee aus, stand auf und wünschte Elisabeth eine gute Nacht. Er folgte den dunklen Stufen hinauf in sein Zimmer, während das Gewitter draußen mit unverminderter Wut durch die Straßen tobte. Das Getöse ließ die Scheiben der hohen Fenster vibrieren, und zuckende Lichtblitze tauchten das Treppenhaus in eisiges Elmsfeuer.
    Martins Büro zu finden war kein Problem. Er fuhr hinauf in den fünfundzwanzigsten Stock und folgte dem süßlichen Klang amerikanischer Schlager aus den Fünfzigern. Als er und Martin noch ein Büro teilten, hatte es erbitterte Auseinandersetzungen um dieses Thema gegeben. Seit damals hatte sich wenig an Martins musikalischen Vorlieben geändert. Carsten entdeckte seine offene Zimmertür auf Anhieb.
    Martin telefonierte, als er den Raum betrat. Das Plärren aus den Lautsprechern schien ihn nicht zu stören. Als er Carsten bemerkte, verzog sich sein rundes Gesicht zu einem erfreuten Grinsen. Mit einem Kopfnicken deutete er auf einen der Besuchersessel.
    Zwei Minuten später legte er den Hörer auf.
    »Stress?«, fragte Carsten.
    »Nicht mehr und nicht weniger als an jedem anderen Tag.«
    Martin drückte die Taste der Sprechanlage und bat die Sekretärin um frischen Kaffee.
    Hinter ihm an der Wand hingen grobe Layouts für Seiten der morgigen Ausgabe. Carsten war mit Absicht vormittags gekommen; später würde Martin mit der aktuellen Produktion alle Hände voll zu tun haben.
    Er schaute suchend durch den Raum. Eine japanische Kompaktanlage stand unter dem Fensterbrett, daneben unzählige Schallplatten und zwei hohe Säulen mit CDs. Martin bemerkte seinen Blick und verfiel in dröhnendes Gelächter. Per Fernbedienung brachte er die Musik zu einem abrupten Ende.
    Carsten stand auf, ging zum Player hinüber und warf einen flüchtigen Blick auf Martins musikalisches Angebot. »Immer noch den gleichen bezaubernden Musikgeschmack. Was sagen deine Kollegen dazu?«
    Martin lachte vergnügt. »Ich bin der Chef.«
    »Du bist ein Schweinehund.«
    Beide grinsten. Eine junge Frau trat ein und brachte Kaffee und zwei Tassen. Während sie beides auf den Schreibtisch stellte, warf Carsten einen Blick aus dem Fenster. Der Himmel leuchtete in strahlendem Blau. Eine Boeing wob einen weißen Faden wie eine Spinne. Keine Spur mehr von den Wolkenbergen des Vortages. Trotzdem hatte der Wetterbericht für die nächsten Tage weitere Gewitter angekündigt.
    Martin musterte ihn mit anzüglichem Grinsen. »Wenn ich's mir recht überlege, könnte ich noch jemanden brauchen, der täglich die Wetterkarte gestaltet. Du könntest das in Eigenverantwortung erledigen.«
    Carsten trat vom Fenster zurück und ließ sich in den Sessel fallen. »Ein wahrer Freund.«
    Sie hoben gleichzeitig die Tassen und tranken einen Schluck. »Nicht besonders passend für einen Toast, aber besser als gar nichts«, sagte Martin. »Herzlich willkommen zurück im Geschäft.« Er nahm einen weiteren Schluck. Als er die Tasse wieder senkte, bemerkte er, dass Carsten langsam den Kopf schüttelte.
    Martin musterte ihn, mit einem Mal skeptisch. »Du hast dich doch entschlossen zuzusagen, oder?«
    Carsten stellte die Tasse ab. Sie klirrte leise. »Ich fühle mich hier in Frankfurt viel zu wohl, um mich auf irgendwelche Abenteuer einzulassen.«
    Martin stützte sich mit
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