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Die verborgenen Bande des Herzens

Die verborgenen Bande des Herzens

Titel: Die verborgenen Bande des Herzens
Autoren: Catherine Deveney
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1. Kapitel
    Carol Ann
    W enn man schon von zu Hause weglaufen muss, so erledigt man das normalerweise mit vierzehn, ich jedoch wartete damit bis zu meinem zweiundvierzigsten Lebensjahr. Vielleicht muss ich meiner Mutter am Ende doch recht geben. Sie fand immer schon, dass ich eine Spätzünderin war.
    Ich verließ Schottland im Spätfrühling, als die Rapsfelder und Kirschbäume in voller Blüte standen. Ich liebe die wenigen Wochen im Jahr, wenn diese beiden Farben in der Natur zusammentreffen: neben dem Haus das zarte Pink der Japanischen Kirsche und vorne, über der Straße, das leuchtende Bonbongelb des Rapsfeldes. In der Zeit, ehe ich fortging, stand ich Tag für Tag vor dem großen Panoramafenster im Wohnzimmer und beobachtete, wie das Gelb draußen allmählich an Intensität zunahm, als würde ein Dimmer weiter aufgedreht, bis es leuchtete und strahlte wie die pralle Mittagssonne. Wenn es jedoch den Zenit erreicht hatte, ging mir immer ein Stich durchs Herz, denn ich wusste, von nun an ging es bergab mit dieser Farbenpracht, jeden Tag würde sie ihre Leuchtkraft weiter einbüßen wie die untergehende Sonne. Und anschließend setzten die Frühjahrsstürme ein und machten kurzen Prozess mit den Kirschblüten, ließen sie auf den Gartenweg schneien, rosa und weiß, die Farben von Himbeer- und Kokosnusseis, zart und sanft, wie der Kuss eines Babys.
    Nun, ich schätze, alles beginnt zu sterben, sobald es einmal seinen Höhepunkt erreicht hat. Du glaubst, du stehst am Anfang, hast noch alles vor dir, doch in Wirklichkeit ist es nur der Anfang vom Ende. Wie der Tag, an dem ich Alex heiratete.
    In den Wochen, ehe ich fortging, schwirrten die Schwalben ohne Unterlass um unser Dachgesims. Ich beobachtete, wie ihre Flügel vibrierten, während sie in das Gebälk unter dem Dachvorsprung schwebten, in ihren Schnäbeln Stroh und Lehmklumpen für den Bau ihrer Nester, wohingegen mein Nest Stück für Stück abgebaut wurde. Meine Mutter behauptete stets, diese Vögel wären überhaupt keine richtigen Schwalben. Dafür wären sie zu klein. Es wären nur Mehlschwalben. Ich widersprach ihr nicht. Lily weiß immer alles besser.
    An dem Tag vor meinem Verschwinden saßen meine Mutter und ich zusammen im Garten. Damals wussten weder sie noch ich, dass ich weggehen würde. Das war das Beste an der ganzen Geschichte. Dass alles so unerwartet kam. Als würde ein lang gehegter Traum, der bereits zur bloßen Phantasterei verkommen war, plötzlich und völlig unerwartet Realität werden. Man sagt ja gemeinhin, man hütet ein Geheimnis, und das tat ich auch, dennoch kann ich nicht behaupten, dass es sich für mich persönlich so anfühlte. Mein Geheimnis war nichts Kleines, das ich tief verborgen irgendwo in mir drinnen hätschelte. Es war gewaltig und raumgreifend. Als würde ich in Gedanken über riesige Brecher surfen. Als würde ich, an einem Fallschirm baumelnd, die Luft an mir vorbeirauschen hören. Nicht dass ich je Fallschirmspringen war. So etwas Waghalsiges würde Carol Ann Matthews nie tun.
    Man hatte das Gefühl, zum ersten Mal in diesem Jahr einen Sommertag zu erleben. Lily hatte auf ihre Strumpfhosen verzichtet, und im Licht der noch etwas schwachen Sonnen strahlen sahen die knotigen Krampfadern auf ihren bleichen Altweiberbeinen aus wie blaue Hügelketten inmitten einer Schneelandschaft. Sie trug eine Bluse mit einem Streifenmuster in Korallenrosa und Zitronengelb, sodass man fast den Eindruck hatte, meine Mutter würde mit der Polsterauflage ihrer Gartenliege verschwimmen. Die Konturen ihres Lippenstifts waren ebenfalls leicht verwischt, gingen ein wenig über den Lippenrand hinaus, vermutlich, weil ihre Hand beim Auftragen gezittert hatte. In den tiefen kleinen Runzeln, nadelfeinen Furchen, die von ihrem Mund nach oben verliefen, hatte sich Lippenstiftfarbe abgesetzt und verteilte sich, als würden aus einem gebrochenen Damm winzige Rinnsale ausströmen.
    »Welche Farbe hat dein Nagellack?«, wollte Lily wissen, als sie meine Hand betrachtete, die locker über der Armlehne meiner Teakholzliege hing.
    »Parisian Rose, glaube ich.«
    »So was Blödes«, erwiderte sie, »was soll denn das sein, eine Pariser Rose?«
    Ich enthielt mich einer Antwort.
    »Ha?«, bohrte sie nach. »Inwiefern sollte sich eine französische Rose von einer normalen Rose unterscheiden?« An jenem Tag war Lily zum Nörgeln aufgelegt. Als ich zu ihr gefahren war, um sie zum Mittagessen abzuholen, hatte sie bereits ein Gläschen getrunken, obwohl es
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