Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Schweigenetz

Titel: Schweigenetz
Autoren: Kai Meyer
Vom Netzwerk:
Stellvertreter. Carsten erinnerte sich, dass Martin bereits früher von ihm gesprochen hatte. Sein Lächeln erinnerte ihn an die Fratze eines gotischen Wasserspeiers.
    Sie setzten sich, und jetzt erst erkannte Carsten, wie riesig der Raum wirklich war. Mehr Sitzungssaal als Büro, mit einem riesigen Konferenztisch und dreieinhalb Meter hoher Decke, war auch hier Weiß die alles beherrschende Farbe. Einziger Wandschmuck war eine Auswahl bronzefarbener Druckplatten von Titelseiten, an denen sich das beachtliche Alter des Blattes ablesen ließ.
    Von Heidens Schreibtisch stand ein wenig abseits des gewaltigen Sitzungstisches. Dahinter öffnete sich erneut das majestätische Panorama der Hochhäuser vor dem aufgewühlten Gewitterhimmel. Die Glaswand war hier beinahe doppelt so hoch wie die im Korridor. In dieser Höhe musste der Wind mit ununterbrochenem Jaulen um die Fassaden toben, doch nicht ein einziger Laut drang herein.
    Carsten wollte nicht, dass von Heiden bemerkte, wie sehr ihm die Aussicht imponierte. Er konzentrierte sich auf sein Gegenüber. Der Verlagsleiter lächelte und setzte an, etwas zu sagen. Im selben Moment rollten die ersten Vorboten des Gewitters über sie hinweg. Die isolierte Scheibe schien unter der Wucht des Donners zu beben, aber nur ein Bruchteil des Brüllens drang bis ins Innere. Am schwarzen Horizont zuckten Blitze.
    »Nun, Herr Worthmann, es freut mich, dass Sie unsere Einladung angenommen haben«, begann von Heiden und lehnte sich dabei ein wenig vor. Über den breiten Schreibtisch hinweg schien er Carsten immer noch sehr weit entfernt. »Ich glaube, Herr Richtwald« – er deutete mit einem Nicken auf Martin – »hat Ihnen bereits erklärt, um was es geht.«
    »Ja«, sagte Carsten.
    »Es gibt eine, genaugenommen sogar mehrere Stellen, die ich schnellstmöglich besetzen muss. Eine davon möchte ich Ihnen anbieten.«
    »Sie haben sie nicht ausgeschrieben«, stellte Carsten fest. Der Verlagsleiter nickte. »Eine Zeitung wie die unsere verfügt über eine große Anzahl persönlicher Kontakte, die eine solche Ausschreibung überflüssig machen – Verbindungen wie die zwischen Ihnen und Herrn Richtwald. Es ist Jahre her, dass wir zum letzten Mal inserieren mussten.«
    Natürlich. Jetzt war es Carsten, der nickte.
    Von Heiden schien sich nicht mit einer langen Vorrede aufhalten zu wollen. Auch das gefiel ihm. »Vielleicht wissen Sie, dass unser Verlag nach der Wiedervereinigung eine Reihe ostdeutscher Zeitungen übernommen hat. Es gab eine erfreuliche Zusammenarbeit mit der Treuhand.«
    Carsten bemerkte, dass Nawatzki nickte.
    »Einige dieser Publikationen erwiesen sich als katastrophale Verlustgeschäfte. Wir waren gezwungen, sie einzustellen. Andere dagegen bergen ein enormes Potential.« Er gab Nawatzki mit einem Wink zu verstehen, dass er fortfahren solle.
    »Eine dieser Zeitungen war der Klassenkämpfer.« Carsten war überrascht, wie jung die Stimme des Stellvertreters klang. Sie passte nicht zu seiner hageren Erscheinung. »Das Erscheinungsgebiet lässt sich grob mit der östlichen Harzregion umschreiben. Wir haben das Blatt Anfang 1990 übernommen, damals lag die Auflage bei rund zweihundertfünfzigtausend Exemplaren. Für eine Abonnements-Zeitung aus westlicher Sicht ein enormer Marktanteil.«
    Carsten ahnte plötzlich, auf was Nawatzkis Vortrag hinauslief. Er hatte mit einem Job hier in Frankfurt gerechnet; nun war mit einem Mal die Rede von einer Parteizeitung des DDR-Regimes. Das war der Haken, den Martin ihm verschwiegen hatte. Er sah finster zu dem blonden Chefredakteur hinüber. Dessen Blick flüsterte Hör zu.
    »Wie Sie sich denken können, ist Klassenkämpfer kein allzu geeigneter Name für eine Publikation, wie wir sie uns vorstellen«, fuhr von Heiden fort. »Einer unserer ersten Schritte war demnach, das Objekt umzubenennen. Wir entschieden uns für das schlichtere Harzbote. Keine Meisterleistung innovativer Namensgebung, aber durchaus tauglich.«
    Draußen hatte der Himmel mittlerweile ein tintiges Blauschwarz angenommen. Riesige Wolkenberge hingen wie überreife Fruchtstauden über den Dächern. Regen trieb in diesigen Schlieren durch die Häuserschluchten. Ein Blitz griff mit flammenden Fingern aus der Finsternis hinab in die Tiefe. Gleich darauf erschütterte neuerliches Donnergrollen die Luft. Der Horizont war längst von Dunkelheit überwuchert. Ein paar einsame Fabrikschlote schienen wie aufgereckte Arme um Hilfe vor den wabernden Schatten zu bitten. Die
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher