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Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)

Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)

Titel: Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)
Autoren: Semiya Simsek , Peter Schwarz
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Zschäpe für den Mord an Enver Simsek verantwortlich gemacht werden? Es waren vielschichtige Gespräche, und sie wurden auch für uns bereichernd und wichtig, weil sie uns Einblicke in das Leben der Familie gaben: Wir erfuhren, wie es sich für die Geschwister angefühlt hatte, mit ihrem türkischen Hintergrund in Deutschland aufzuwachsen. Dass es für sie völlig normal war, in Deutschland beheimatet zu sein und sich in den Ferien bei den Verwandten in der Türkei ebenso zu Hause zu fühlen.

    Semiya und Kerim Simsek erwarteten nicht nur die Aufklärung der Morde, sie waren sich von Anfang an auch der politisch-gesellschaftlichen Dimension des Falles bewusst. Deshalb entschloss sich Semiya Simsek zu ihrer Rede bei der Gedenkfeier in Berlin. Sie wollte das Podium nicht allein den Repräsentanten des Staates überlassen, dessen Behörden noch wenige Monate zuvor jeden rechten Terror negiert hatten. So konnte sich Semiya Simsek der eigenen Geschichte wieder bemächtigen. Die Resonanz auf ihre Rede war überwältigend, doch das politische und mediale Tagesgeschäft vergisst rasch. Über Neonazis wird seitdem häufiger geredet, das grundsätzlichere Problem des vorurteilsbeladenen, alltäglichen Ausländerhasses wird kaum diskutiert. Dazu braucht es keine rechten Strukturen, und oft erkennt man diese Fremdenfeindlichkeit gar nicht, nicht bei anderen, manchmal nicht einmal bei sich selbst. Wer würde sich spontan, wenn er schnell einen Zahnarzt braucht, eher für Dr. Sulaiman als für Dr. Mayer entscheiden? Und wer hört nicht lieber darüber hinweg, wenn der Nachbar mal wieder über «die Türken» schimpft? Diskriminierung fängt im Kopf an, sie beginnt mit Gleichgültigkeit, Unachtsamkeit, kleinen Vorurteilen. «Aus Worten können Taten werden», mahnte die Bundeskanzlerin bei der Gedenkfeier. Und das Problem wächst, wie Zahlen belegen: Nach der im November 2012 von der Friedrich-Ebert-Stiftung vorgestellten Untersuchung «Die Mitte im Umbruch. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2012» sind rechtsextreme Einstellungen in Deutschland weit verbreitet: Über fünfundzwanzig Prozent der Bevölkerung können als ausländerfeindlich gelten, und die Zahl derer mit einem geschlossenen rechtsextremen Weltbild ist von guten acht Prozent auf neun Prozent angestiegen. Über Integration oder vielmehr deren Scheitern wurde in Deutschland in den letzten Jahren viel diskutiert. Eine Selbstabschaffungs-Horrorvision wurde zum Bestseller. Positivbeispiele von Integration wurden öffentlich zu wenig wahrgenommen. Auch so funktioniert Diskriminierung – mit einem Zerrbild. Wenn wir in Menschen mit Migrationshintergrund deshalb immer öfter Feinde sehen, weil sie uns – vermeintlich – Arbeitsplätze wegnehmen, kriminell sind und unsere Werteordnung missachten, kann das bereits zum Nährboden für Gewalttaten werden.

    Die Worte der Bundeskanzlerin hatten Semiya Simsek zuversichtlich gemacht, dass von rechtsstaatlicher Seite nun alles für die Aufklärung der Morde getan würde. Doch wenige Monate nach der Gedenkfeier wurde bekannt, dass mehrere Beamte im Bundesamt für Verfassungsschutz am 11. November 2011, also nur sieben Tage nachdem das Trio des «Nationalsozialistischen Untergrunds» (NSU) aufgeflogen war, eigenmächtig die Vernichtung von Akten anordneten, ohne diese auf mögliche Relevanz hin überprüft zu haben. Dabei ging es um die sogenannte «Operation Rennsteig», bei der V-Leute in der Neonazigruppe «Thüringer Heimatschutz» platziert wurden. Brisant war, dass dieser Gruppe zeitweise auch die mutmaßlichen NSU-Terroristen und Mörder Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe angehörten. Acht Rechtsradikale hatte das Bundesamt für Verfassungsschutz engagiert, deren Berichte nun aufgrund jener Aktenvernichtung nicht mehr vollständig nachvollziehbar sind. Der damalige Verfassungsschutzpräsident Heinz Fromm, der vom auffälligen Zeitpunkt der Schredderaktion erst Ende Juni 2012 erfuhr, räumte eine bewusste Vertuschung ein und nahm daraufhin seinen Hut mit der Begründung, er sei von seinen eigenen Leuten «hinters Licht geführt» worden, der Verfassungsschutz habe durch die «Aktion Konfetti» einen «schwerwiegenden Ansehensverlust» erlitten.
    Noch vor Fromms Versetzung in den vorzeitigen Ruhestand zum 31. Juli 2012 wurde eine weitere Reißwolfaktion bekannt. Das Bundesinnenministerium (BMI) hatte am 14. November 2011, drei Tage nach der ersten Schredderanordnung, das Bundesamt für
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