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Toedlicher Blick

Titel: Toedlicher Blick
Autoren: John Sandford
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    James Qatar schob die Füße über den Bettrand und rieb sich den Nacken. Für einen Moment legte sich der Schleier einer Depression auf ihn. Er saß nackt auf den zerwühlten Laken, und der Geruch nach Sex hing in der Luft wie ein billiges Parfum. Er hörte Ellen Barstad in der Küche. Sie hatte das Radio neben der Spüle eingeschaltet, und die Klänge von »Cinnamon Girl« perlten durch die kleinen Räume. Teller klirrten gegen Tassen, und das Kratzen von Fingernägeln auf Geschirr störte die Melodie des Liedes empfindlich.
    »Cinnamon Girl« war sowieso nicht die richtige Musik für diesen Tag, für diesen Morgen, für das, was geschehen würde. Wenn ich jetzt Musik hören wollte, dachte er, käme Schostakowitsch in Frage, einige Takte aus dem Lyrischen Walzer in der Jazz-Suite Nummer 2. Liebliche Klänge, jedoch ernst und erhaben, mit einem Beigeschmack von Tragik; Qatar war ein Intellektueller, und er hatte bestimmte musikalische Vorlieben.
    Er stand auf, wankte ins Badezimmer, spülte das, was sich in seiner Blase angesammelt hatte, die Toilette hinunter, wusch sich oberflächlich und betrachtete aufmerksam sein Gesicht im Spiegel. Schöne Augen, dachte er, tief in den Höhlen sitzend, wie es einem Mann mit wachem Verstand angemessen ist. Gute Nase, kräftig, aber nicht fleischig. Markantes Kinn, das dem Gesicht eine ovale Form verlieh – ein Zeichen tiefer Sensitivität. Die Bewunderung für das Bild im Spiegel wurde gestört, als sein Blick auf die Seite der Nase fiel: Ein ganzes Büschel kurzer schwarzer Haare wucherte dort, wo die Nasenseite in die Wange überging. Er
hasste
das.
    Er fand eine Pinzette im Medizinschränkchen und zupfte die Haare sorgfältig aus, ebenso einige weitere auf der Nasenwurzel zwischen den Augenbrauen. Überprüfte die Ohren. Alles okay, keine Haare. Die Pinzette ist gut, dachte er; so eine findet man nicht alle Tage. Er würde sie mitnehmen – die Frau würde sie sowieso nicht vermissen.
    Und jetzt … Wo genau war er überhaupt?
    Ach so, natürlich. Bei Ellen Barstad. Er musste sich konzentrieren. Er ging zurück ins Schlafzimmer, steckte die Pinzette in eine Jackentasche, zog sich an, überprüfte dann vor dem Spiegel im Badezimmer seine Frisur. Nur eine winzige Korrektur mit dem Kamm … Als er mit seinem Aussehen zufrieden war, rollte er fünf Meter Toilettenpapier vom Halter ab und wischte damit im Schlafzimmer und im Badezimmer alles gründlich ab, was er glaubte, berührt zu haben. Früher oder später würde die Polizei hier auftauchen.
    Während der Arbeit summte er eine Melodie vor sich hin, keine komplizierte, wohl irgendwas Gängiges von Bach. Als er mit der Arbeit fertig war, warf er die Papierknäuel in die Toilette, drückte mit den Fingerknöcheln den Abzug und sah zu, wie sie im Abfluss verschwanden.
    Ellen Barstad hörte, wie die Toilettenspülung zum zweiten Mal betätigt wurde. Diese Geräusche waren alles andere als romantisch; sie hätte doch aber so gerne ein wenig romantischen Zauber erlebt. Ja, Romantik, dachte sie, und ein wenig richtig schönen
Sex
. James Qatar war eine arge Enttäuschung gewesen, ebenso wie die wenigen anderen Liebhaber in ihrem Leben. Alle nur scharf darauf, sie zu besteigen und loszurammeln; keiner daran interessiert, ob auch sie etwas davon hatte, obwohl sie alle dies vorgaben.
    »Das war großartig, Ellen, du bist echt super – sei so nett und reich mir mal das Bier rüber … Du hast tolle Titten, hab ich dir das schon gesagt?«
    Ihr Liebesleben war bis heute – drei Männer in sechs Jahren – nur ein schwacher Abklatsch der Ekstasen gewesen, wie sie in ihren Büchern geschildert wurden. Bisher hatte sie das Gefühl, eher als Maschine betrachtet zu werden, die zur Hervorbringung praller Würste dient, nicht als Geliebte, wie sie im Hohelied Salomos gepriesen wird:
»Deine zwei Brüste sind wie zwei junge Rehzwillinge, die unter den Rosen weiden. Bis der Tag kühl wird und die Schatten weichen, will ich zum Myrrhenberge gehen und zum Weihrauchhügel. Du bist allerdinge schön, meine Freundin, und ist kein Flecken an dir.«
    Wo gab es das? Bitte – wo gab es das? Aber
eben das
war es, was sie haben wollte. Jemanden, mit dem sie ihren Myrrhenberg erklimmen konnte …
    James Qatar sieht nicht nach viel aus, dachte sie, aber in seinen Augen spiegelt sich eine Sinnlichkeit und eine immanente Grausamkeit, die mich faszinieren … Sie hatte sich nie jemandem aufgedrängt, hatte niemals in ihrem Leben etwas gegen Widerstände
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