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An einem Tag im Winter

An einem Tag im Winter

Titel: An einem Tag im Winter
Autoren: Judith Lennox
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1
    ES WAR DER ERSTE KÜHLE MORGEN IM SEPTEMBER.
    Vereinzelt fielen Blätter von den Bäumen und sprenkelten die Ränder der schmalen, von Hecken gesäumten Landstraße, die sie in scharfem Winkel von der Chaussee weg durch ein Haselwäldchen führte, in Gelb und Rot. Die frische Herbstluft weckte Aufbruchsstimmung, Gedanken an den Beginn eines neuen akademischen Jahres, die Lust, nach der Mattigkeit des Spätsommers endlich wieder tätig zu werden.
    Soso, du gehörst jetzt also zu Pharoas Truppe . Die Bemerkung, die ein Bekannter von der Universität kurz nach ihrem Einstellungsgespräch vor sechs Wochen gemacht hatte, als sie ihm von der Anstellung erzählte, fiel Ellen Kingsley wieder ein, als sie jetzt den Hang hinaufradelte. In der Erinnerung schien ihr, als wären die Worte von leichtem Spott, vielleicht sogar einer gewissen Herablassung gefärbt gewesen. »Ja, und ich freue mich darauf, in Gildersleve Hall zu arbeiten, falls du das meinst«, hatte sie erwidert, stolz und aufgeregt.
    Oben auf dem Hügel angekommen, bremste sie ab und gönnte sich einen Blick über das flache Tal. Sie hatte Hecken und Bäume hinter sich gelassen, und vor ihr ausgebreitet lagen Äcker und Wiesen, die wie ein gelb-braun gemusterter Fleckenteppich die sanft gewellte Ebene überzogen. Ein kleiner grauer Traktor tuckerte über ein Stoppelfeld. Weiße Vögel kreisten am blauen Himmel, bevor sie auf frisch aufgeworfenen Erdschollen landeten.
    Jenseits des Ackerlands hob sich wuchtig und stolz Gildersleve Hall von dieser schlichten Landschaft ab. Ein halbes Dutzend Silberpappeln, deren noch dicht belaubte Kronen im leichten Wind glitzerten, stand nahe bei dem Gebäude, und zur Straße hin zog sich in gekrümmter Bahn eine Reihe Zypressen. Auf der einen Seite ragte ein mit Efeu bewachsener Turm in die Höhe. Die tief heruntergezogenen Traufen über den zwei ausladenden Erkerfenstern verliehen dem Haus ein finsteres Gesicht, so als runzelte es die Stirn; der Herbstsonnenschein schien in den Klinkermauern und den grauen Schieferdächern zu versickern. Das Haus wirkte geheimnisvoll, beinahe bedrohlich, und hätte Ellen an Geister geglaubt, so hätte sie vielleicht Angst gehabt, in seinen Mauern könnte es spuken.
    Aber es gab immer eine rationale Erklärung für alles. Sie wusste, dass die überladene pseudogotische Architektur der viktorianischen Zeit zu Schauerphantasien von finsteren Geheimnissen und übersinnlichem Treiben einlud, und war sich ziemlich sicher, dass die Fenster nur deshalb blind erschienen, weil die Wissenschaftler, die in den Labors arbeiteten, zum Schutz vor der blendenden Sonne die Jalousien heruntergezogen hatten. Der Anflug von Beklemmung, den sie verspürte, war ohne Zweifel nichts anderes als eine Begleiterscheinung der Erregung, mit der sie dem ersten Tag an ihrem neuen Arbeitsplatz entgegensah.
    Hier bot sich ihr die große Chance, für die sie gearbeitet, die sie herbeigesehnt hatte. Dieser Tag war der Beginn ihrer Zukunft.
    Das Labor, in dem sie ihre Kristalle züchten würde, befand sich im obersten Stockwerk von Gildersleve Hall.
    Eine Sekretärin empfing sie bei ihrer Ankunft. Ein Mann, etwa in ihrem eigenen Alter, der gerade die Treppe hocheilen wollte, drehte sich nach ihr um, als er sie unten hörte, und sagte: »Sie sind sicher die neue Forschungsassistentin.« Er stellte sich ihr als Martin Finch vor und erbot sich, sie zu ihrem Labor hinaufzubringen. Auf dem Weg nach oben bemerkte Ellen in den Gängen flüchtig Büros und Labors, ein hochgewachsener, dunkelhaariger Mann eilte an ihnen vorüber und grüßte mit einem kurzen Wort und einem Nicken.
    Martin Finchs etwas teigiges Gesicht unter dem seitlich gescheitelten, kurzen braunen Haar war bis auf die dicken schwarzen Augenbrauen und den vollen Mund eher unscheinbar. Er trug sein Tweedjackett offen über Hemd und Krawatte, ab und zu schob er mit einer kantigen Fingerspitze die Schildpattbrille hoch, die ihm immer wieder den Nasenrücken hinunterrutschte.
    Oben hielt er ihr die Tür auf. »In diesen Räumen ist es im Winter immer eisig«, sagte er. »Hoffen wir, dass die feurige Leidenschaft für die Naturwissenschaften Sie warm halten wird.«
    Ja, und mehrere Pullover übereinander dazu, dachte Ellen. Kalte Zugluft pfiff durch das kleine Zimmer. An zwei Wänden standen Arbeitstische mit Mikroskopen, Bunsenbrennern und
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