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Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)

Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)

Titel: Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)
Autoren: Semiya Simsek , Peter Schwarz
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denn sie fuhren bald zurück nach Deutschland, während ich in der Türkei blieb. So vieles schwang mit in diesem Moment. Manche Gäste waren erstmals seit zwölf Jahren wieder in diesem Haus. Mein Vater, tot auf dem Bett – das war das letzte Bild gewesen, das sie von diesem Ort in sich trugen. Alle waren aufgewühlt, kämpften mit widersprüchlichsten Gefühlen, auch Schluchzer waren zu hören. Verwandte saßen auf Sofas oder auf dem Boden, den Rücken an die Wand gelehnt, nah bei der Tür zum Schlafzimmer, wo mein Vater aufgebahrt gewesen war.
    Mein Schwiegervater führte mich hinaus in den Hof, wo Fatih wartete und mich zum Auto begleitete. Als wir losfuhren, stand die Festgesellschaft stumm Spalier, selbst Onkel Hüseyin, der immer so leutselig ist, war tief in Gedanken. Fatih und ich fuhren nun zunächst zu seinem Elternhaus in Sarkikaraagac, die übrigen Verwandten blieben in Salur, wo auf dem Dorfplatz riesige Töpfe über Holzfeuern aufgehängt worden waren. Darin wurde für alle Gäste Eintopf gekocht, sie setzten sich um runde Tische und aßen mit den anderen aus großen Schüsseln in der Mitte, wie es bei Hochzeiten Brauch ist. Später fanden wir dann wieder alle auf dem großen Festplatz in Sarkikaraagac zusammen. Hunderte von Menschen, die zu lauter Musik tanzten, sich freuten und in der Nacht dem Feuerwerk zusahen.

    In der Stunde, als Fatih mich mit seinen Eltern aus Vaters Haus abholte, war die Vergangenheit darin trotz aller Freude über das Kommende immer noch präsent. Bald wird das anders sein, bald werden auch die neuen Momente des Glücks zu diesem Haus gehören. Seither fühle ich mich dort wohl. Es ist ein zweites Zuhause für mich geworden. Ich weiß nicht, was die Zukunft bringt. Vieles wird sich ändern, doch davor ist mir nicht bange. Ich plane mein Leben nicht in allen Einzelheiten voraus, ich werde die Dinge anpacken, wie sie kommen. Ein paar Wünsche habe ich natürlich schon: Ich erhoffe mir ein ruhiges, erfülltes Leben, eine glückliche Partnerschaft, ich will auf jeden Fall Kinder. Ich wünsche mir, dass meine Ehe von ebenso viel Vertrauen geprägt sein wird wie die meiner Eltern, und ich will eine Familie gründen, die meinen Kindern die gleiche Geborgenheit gibt wie die, in der ich aufgewachsen bin.
    Vieles steht uns bevor. Für den Prozess gegen Beate Zschäpe und ihre möglichen Komplizen werden wir viel Kraft brauchen, wahrscheinlich ist mit neuen, erschreckenden Enthüllungen zu rechnen. Auch müssen wir lernen – Kerim, meine Verwandten in Deutschland und ich –, einander loszulassen und unser Leben ohne die bisherige Nähe zu führen. Und ich muss mir in der Türkei eine Zukunft aufbauen. Doch spüre ich seit meiner Hochzeit umso stärker, wie viel Kraft in uns steckt und wie sehr die Verbundenheit uns trägt. Wenn ich die Augen schließe, sehe ich uns alle gemeinsam tanzen in der Henna-Nacht, vor dem Haus meines Vaters, ich sehe es vor mir wie in einem Film: Der Hof erleuchtet, so viele Menschen sind gekommen, die Nacht bricht herein, die Berge versinken im Dunkel, schwarz wird der Himmel über uns, aber die Lichter, die Fatih überall angebracht hat, strahlen umso heller. Ein Sänger lässt die Melodie in türkischen Halbtonschritten schlingern, ein zweiter Musiker spielt dazu die Saiten der langhalsigen Saz. Die Tanzfläche füllt sich, die Menschen drängen sich immer enger. Fatih und ich haben den Anfang gemacht, dann folgen die jungen Frauen und bald die ersten Männer, und nun tanzen alle zusammen: Alte Männer, die morgens noch fast unbeweglich im Café saßen, wiegen die Hüften, halbwüchsige Burschen vollführen immer gewagtere Drehungen, Frauen mit bodenlangen Röcken und Kopftüchern stehen und klatschen in die Hände, junge Mädchen in ärmellosen Blusen und mit offenem Haar hüpfen herum, und die kleinen Kinder machen es den Erwachsenen eifrig nach. Wir lachen uns zu, feuern einander an, und da ist meine Cousine Emine, mit dem Temperament einer Siebzehnjährigen vollführt sie einen Wirbel aus Schritten. Ein paar Männer halten hölzerne Löffel in den Händen und lassen sie gegeneinander klappern wie Kastagnetten, und dort drüben dreht sich Fatih um sich selbst, umgeben von seinen Freunden, er schaut zu mir herüber, während ich mit meinen Freundinnen tanze, er lächelt. Grüppchen bilden sich, lösen sich auf, Gesichter schweben aneinander vorbei, verlieren sich im Getümmel und finden sich wieder. Ich sehe meinen Onkel Hüseyin, wie er filmt und
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