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Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)

Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)

Titel: Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)
Autoren: Semiya Simsek , Peter Schwarz
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vollkommen aufgelöst. Die Nürnberger Kriminalpolizei hatte sie schon vernommen, aber das erzählte sie mir erst viel später. Wir waren etwa vierzig Leute, die ganze Familie und viele Bekannte, alle wollten bei uns und bei meinem Vater sein, sie kamen aus Schlüchtern und aus Neuss angereist und ich weiß nicht, von wo überall her. In schwierigen Situationen stehen wir einander bei.
    Ein Arzt kümmerte sich um uns und meinte, dass wir hineingehen und mit meinem Vater reden sollten. Vielleicht hört er das, sagte der Arzt, sprechen Sie mit ihm, vielleicht spürt er, dass Sie da sind. Aber er machte uns keine Hoffnungen. Vater würde nicht überleben. Wir sollten uns von ihm verabschieden. Trotzdem haben wir noch auf ein Wunder gehofft, dass er es irgendwie schafft. Wie konnten wir auch anders? Meine Mutter beschwor die Verwandtschaft immer wieder: Betet für ihn, betet für ihn.
    In dieser Nacht schliefen wir bei Nürnberger Bekannten, aber was hieß da schlafen? Wir standen alle unter Schock. Die Erwachsenen diskutierten die ganze Nacht verzweifelt, sie hatten immer noch keine Ahnung, was da geschehen war. Kerim und ich lagen im Zimmer nebenan, wir verstanden nicht genau, worüber sie redeten, aber wir hatten furchtbare Angst um unseren Vater.
    Am nächsten Tag berieten sich die Ärzte, wie weiter zu verfahren sei. Ob sie die Geräte abschalten sollten oder nicht. Meine Mutter wartete mit uns Kindern und den Verwandten im Garten der Klinik, Onkel Hüseyin sprach oben mit den Medizinern. Die Entscheidung, um die es ging, war zu groß, zu unbegreiflich für mich. Als mein Onkel in den Garten kam, konnte er die Tränen nicht mehr zurückhalten, er brach fast zusammen vor Schmerz. Sein Gesicht in dem Moment werde ich nie vergessen. Da wusste ich, was los war. Ich sehe ihn noch heute vor mir, wie er weinte und kaum die Worte herausbrachte: Ich habe meinen Schwager verloren.
    Die Ärzte hatten die Apparate abgeschaltet, es hätte keine Chance mehr gegeben. Mein Onkel erklärte uns, dass mein Vater klinisch tot sei; dass sein Körper zwar noch jahrelang so auf dem Bett liegen könnte, angeschlossen an Maschinen, dass er aber nie wieder aufwachen würde. Dass es hoffnungslos sei.
    Alle gingen nacheinander noch einmal in das Krankenzimmer und verabschiedeten sich von ihm. Wir traten an sein Bett und beteten für ihn. Dann fuhren wir heim nach Schlüchtern. Der Leichnam meines Vater blieb in Nürnberg zur Autopsie.

    Heute habe ich keine Angst mehr, über all diese Geschehnisse zu schreiben. Über diese furchtbaren Tage, über die schwierigen Jahre danach und all die unbeschwerten Jahre davor. Die Erinnerungen sind schmerzhaft, manches bringt mich immer noch an meine Grenzen, aber viele Bilder aus der Vergangenheit sind auch schön. Als ich anfing, über alles nachzudenken und mir zu überlegen, was es zu sagen gibt, fühlte ich mich schnell ziemlich erschöpft. Ich habe gemerkt: Die Vergangenheit tut mir weh. Vor allem natürlich die schrecklichen Dinge, die geschehen sind. Vieles macht mich noch heute ratlos, und ich bin hin- und hergerissen. Mein Vater war ein guter Mensch, und an das Gute in ihm denke ich gerne. Umso mehr schmerzt es mich, daran zu denken, was ihm passiert ist.
    Aber zu meiner Geschichte gehört dies alles: Die schöne Nacht im Urlaub vor dreizehn Jahren, als ich mit Vater in seinem Heimatdorf in der Türkei nachts auf dem Balkon saß, als wir die Glöckchen der aus den Bergen zurückkehrenden Schafe hörten und ich spürte, wie glücklich er in diesem Augenblick war. Und der Tag ein Jahr später, als ich ihn im Krankenhaus in seinem Blut liegen sah, nachdem sie auf ihn geschossen hatten. Die Zeit danach, die Jahre der Verdächtigungen, des Unrechts, das meine Familie ertragen musste. Die schlimmen Vermutungen, die sich meine Mutter anhören musste. Schließlich die Wahrheit, die nach so vielen Jahren herauskam. Eine Wahrheit, die befreiend war, weil sie die lastende Ungewissheit von uns nahm. Und die doch manches Unrecht umso schlimmer macht. Es ist anstrengend und aufwühlend, das alles noch einmal vor mir zu sehen. Und doch bin ich dankbar für das, was ich mit meinem Vater erleben durfte, für die Erinnerungen, die ich in mir trage, für all das, was ich niemals missen möchte.

[zur Inhaltsübersicht]
    Erstes Kapitel
    Kindheit in der Katharinenstraße
    Flieden, die Katharinenstraße – das steht für mich heute für eine der schönsten Zeiten meines Lebens. Flieden liegt gut zwanzig Kilometer
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