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Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)

Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)

Titel: Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)
Autoren: Semiya Simsek , Peter Schwarz
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damals dörflich vor. Es gab gerade mal zwei Supermärkte, im Ortskern eine Eisdiele, ein paar Friseure, Sparkasse und Volksbank, den Bahnhof. Und mittendrin standen damals noch Bauernhöfe, bei denen man die Milch frisch aus dem Stall holen konnte.
    Im Nachhinein weiß ich, dass Flieden nicht ganz so winzig war, wie ich als Kind dachte. Es wirkte beschaulich, weil es dort so ruhig war, weil das Leben unserer Familie in geregelten Bahnen verlief. Mein Vater hat Schicht gearbeitet. Wir wussten, wann er geht und wann er wieder nach Hause kommt, und daran orientierte sich unser Leben. Alles übersichtlich und aufgeräumt. Heute kann ich sagen: Ich habe mich geborgen gefühlt. In Flieden. Im Stockbett. Mit meinen Freunden und bei meiner Familie.
    Das blieb auch noch so, als ich in die Schule kam, obwohl sich damit viel für mich änderte. Ich war zwar nicht unbedingt eine Top-Schülerin, aber auch nicht schlecht. Frau Hirth, meine erste Klassenlehrerin, legte großen Wert auf Disziplin. Sie war sehr streng, aber nie böse oder herrisch – streng, aber nett. Viel schwieriger war es mit meiner Kunstlehrerin. Die aß nämlich in den Pausen immer Fischbrötchen mit Zwiebeln, was man gerochen hat, und wie.
    Eines war die Katharinenstraße nicht: Es war keine reiche Straße. Viel Geld hatte dort wohl keiner, aber das haben wir nie bemerkt, weil man den Mangel durch Zusammenhalt wettgemacht hat. Wenn jemand keine Zeit hatte, sich um seine Kleinen zu kümmern, weil er zum Arzt musste oder etwas zu erledigen hatte, dann hat jemand anderer solange auf die Kinder aufgepasst. Wenn ein Nachbarskind von der Schule nach Hause kam und die Mutter nicht da war, dann hat es bei uns geklingelt, sich zu uns an den Tisch gesetzt und mitgegessen, umgekehrt sind Kerim und ich auch oft bei den anderen Familien untergeschlüpft. Wer morgens seinen Sprössling zur Schule fuhr, hat so viele andere Kinder mitgenommen, wie ins Auto passten. Sorgen hätte sich deshalb keiner gemacht. Die Katharinenstraße war eine kleine Welt aus vier oder fünf Häuserblocks, in der jeder jeden kannte.
    Glaubensfragen haben in diesem Alltag keine große Rolle gespielt, schon gar nicht haben sie uns getrennt. Wir sind Sunniten, und eine Etage über uns hat eine alevitische Familie gewohnt, die den Islam ganz anders auffasste als wir: Aleviten beten nicht in Moscheen, sie verehren den Imam Ali als den rechtmäßigen Nachfolger des Propheten Mohammed und legen den Koran freier aus. Früher hatten sich Sunniten und Aleviten deshalb bekämpft, in manchen Ländern tun sie das bis heute. Von dieser alten Feindschaft war bei uns nichts zu spüren, obwohl unsere Eltern uns davon erzählten, als wir alt genug waren. Unsere alevitischen Nachbarn hatten einen Sohn, ein Jahr jünger als mein Bruder, mit dem wir rund um die Uhr gespielt haben.
    Natürlich war nicht alles schön und idyllisch. Ich erinnere mich an eine Nachbarin – sie dick, nudeldick, und ihr Lebensgefährte war dünn wie ein Streichholz. Über dieses komische Paar haben wir uns lustig gemacht und bekamen dann Ärger. Kinder mochte die Frau allerdings sowieso nicht, immer hat sie gemeckert, weil wir zu laut oder zu frech oder zu schmutzig waren. Aber irgendwie hat auch das dazugehört. Besonders an Feiertagen hat man gespürt, welche besondere Stimmung damals in der Katharinenstraße herrschte. Da gingen wir mit der Familie zum Grillen – und damit meine ich nicht nur uns vier, sondern die ganze Sippe. Fünf, sechs Familien zusammen, Bekannte und Verwandte, Onkel, Tanten und Cousinen, auch Nachbarn. In Flieden gab es einen großen Grillplatz, jemand brachte einen Kohlensack mit, ein anderer hatte seinen Grill dabei, und dann musste meistens noch mal wer loslaufen, weil ein einziger Rost für so viele Leute nie gereicht hätte. Man stellte eine Wanne mit Wasser auf, um das Geschirr abwaschen zu können. Irgendwer hatte immer eine Melone eingepackt, denn Melonenscheiben haben wir für unser Leben gern gegessen. Dazu gab es Paprika, süßen und scharfen, Köfte, Rindswürstchen oder Fleischspieße, alles kräftig mit Knoblauch gewürzt. Und immer stand mein Vater am Grill. Ganz gleich, welche Fotos aus dieser Zeit ich durchblättere: Auf jedem zweiten Gruppenfoto sehe ich ihn nah beim Feuer. Er aß leidenschaftlich gern Fleisch, und er hat das Grillen geliebt. Das kommt aus seiner Kindheit.

    Der Blick auf diese fröhlichen Szenen täuscht allerdings darüber hinweg, wie fremd meinem Vater das Leben hier anfangs
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