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Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)

Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)

Titel: Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)
Autoren: Semiya Simsek , Peter Schwarz
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späteres Leben in der Türkei. Mit ein paar Landsleuten schlossen sie sich zu einer Art Genossenschaft zusammen. Jedes Mitglied musste zwanzigtausend Mark Startkapital einbringen, und mit der Summe kauften sie gemeinsam ein großes Stück Bauland in Salur und finanzierten dessen Erschließung. Der weitere Plan sah so aus, dass jeder Teilhaber Monat für Monat hundertfünfzig Mark einzahlen sollte. Mit dem Geld sollte zunächst ein Haus gebaut werden, zumindest ein mit dem Wichtigsten ausgestatteter Rohbau, dann noch einer und noch einer, bis in zehn oder zwölf Jahren eine Kleinsiedlung mit je einem Gebäude pro Mitglied entstanden wäre. Das Los sollte dann entscheiden, wer welches Haus bekäme.
    Die deutsche Sprache haben meine Eltern eher nebenbei gelernt, bei der Arbeit, im Alltag. Meine Mutter ist in Deutschland zur Berufsschule gegangen, und mein Vater hat in seinen ersten Jahren in der Fabrik viel mit deutschen Kollegen zusammengearbeitet. Da haben sie einfach drauflosgesprochen. Es hat gereicht, um ein bisschen zu reden, sie konnten sich verständigen und haben alles verstanden, aber besonders gut waren meine Eltern beide nicht darin.
    Zu Hause haben wir Deutsch und Türkisch geredet. Wenn mein Vater mir eine Frage auf Deutsch gestellt hat, habe ich auf Deutsch geantwortet, wenn er mich auf Türkisch gefragt hat, war die Antwort auf Türkisch. Bei uns gab es Bücher in beiden Sprachen, in beiden musste ich üben, und das war gut so, denn sonst könnte ich jetzt nicht so gut türkisch lesen. Bei meinem jüngeren Bruder haben sie das schon vernachlässigt, da waren sie irgendwie schon deutscher. Das zeigt eigentlich ganz treffend, wie unsere Familie zwischen Deutschland und der Türkei hin- und hergerissen ist. Genau wie es meinem Vater schwergefallen ist, sich an das Leben in Deutschland zu gewöhnen, so fällt es mir heute, nach meinem Umzug in die Türkei, oft schwer, mich an den dortigen Alltag zu gewöhnen, obwohl ich die Sprache spreche. Nach meinem bisherigen Leben in Deutschland fällt mir plötzlich auf, wie viel ich davon vermisse, von der Ordnung im Drogeriemarkt bis zum geregelten Straßenverkehr. Alles ist so übersichtlich, so schön aufgeräumt, alles hat seinen Platz – da geht es in der Türkei schon etwas chaotischer zu. Wenn man an das eine Leben gewöhnt ist, ist es nicht einfach, im anderen anzukommen. Das Essen in der Türkei ist so anders, die Milch dort ist richtig fett und schwer, und das Fleisch schmeckt mir zu intensiv. Und wenn ich das schon schwierig finde, ich mit all meinen Verwandten und nach meinen vielen Urlauben in der Türkei, wie viel schwerer muss es umgekehrt für meinen Vater gewesen sein? Für ihn war alles fremd, als er nach Deutschland kam. Ein anderes Land. Eine eigene Familie. Andere Gewohnheiten. Anderes Wetter.

    Mein Vater war fleißig und verdiente gut bei Phönix. Aber er war nicht ausgelastet und obendrein sehr ehrgeizig. Also suchte er bald zusätzliche Verdienstmöglichkeiten. An seinen freien Wochenenden schloss er sich einer Putzkolonne an, säuberte verrußte Werkshallen, räumte Dreck und Schmutz weg. Genau wie meine Mutter, auch sie arbeitete auf mehreren Putzstellen. Vater hatte keine Ausbildung, aber er war schlau. Deshalb erkannte er schon bald, dass sich sein Lohn in der Fabrik nicht beliebig steigern ließ, egal, wie viele Stunden er dort auch schuften mochte. Und so begann er, nach weiteren Einkunftsquellen zu suchen. Er wusste zu kalkulieren und wickelte bald seine ersten Geschäfte als Selbständiger ab, zunächst allerdings eher Geschäftchen: Anfang der neunziger Jahre ließ er in einer deutschen Schlachterei Rinder schlachten und verkaufte das Fleisch dann, sauber in Portionen zerteilt, an türkische Landsleute. Die Verdienstspanne hielt sich leider auch hier in engen Grenzen.
    Dann aber fielen meinem Vater die Blumenstände auf, die vielerorts am Straßenrand standen, in Parkbuchten oder Feldwegen. Die meisten bestanden aus nicht mehr als einem Klapptisch, einem Schirm und einer Kreidetafel, auf der Waren und Preise notiert waren. Viele dieser Klein- und Kleinstverkäufer waren Türken. Das könnte es sein! Aus seiner Heimat war Vater den Umgang mit Blumen gewohnt, er sah den Blüten an, ob sie frisch waren, und erkannte die ersten Anzeichen ihres Verfalls schon, bevor sie sichtbar welkten. Er hörte sich um und ließ sich die Dinge erklären: Woher bekommt man die Genehmigung, ohne festen Betriebssitz etwas auf der Straße zu verkaufen?
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