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Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)

Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)

Titel: Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)
Autoren: Semiya Simsek , Peter Schwarz
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Haaren ziehen und sie ausrupfen würde, wie würdest du dich da fühlen, würdest du da keinen Schmerz spüren? Die Religion war für sie schon immer weit mehr als einfach nur Gebet. Die Religion ist ihre Grundlage für die moralische Erziehung von uns Kindern gewesen.
    Genauso wichtig war der Zusammenhalt in der Familie, und das bedeutet für mich vor allem der enge Kontakt zu meinen Onkeln Hursit und Hüseyin. Diese Nähe rührt noch aus der Zeit in Friedberg her, als wir in meinen ersten Lebensjahren mit ihnen und meinem Opa zusammengewohnt haben. Diese Nähe hat uns getragen, als später all das Entsetzliche passiert ist.
    Als ich 1986 geboren wurde, das erste Kind der Familie auf deutschem Boden, hat sich eine Zeitlang alles um mich gedreht. Meine Onkel haben sich gekümmert, mit mir gespielt, sind mit mir spazieren gegangen. Und als wir später nach Flieden zogen, bestanden sie darauf, dass ich jeden Sommer mindestens eine Ferienwoche bei ihnen in Friedberg verbringe. Hursit und seine Frau Ümmü sind lange kinderlos geblieben. Ich war für sie ein Ersatzkind, und diese besondere Beziehung hat sich erhalten, obwohl sie heute eine Tochter haben, Beyza. Bei ihnen sein, das war wie ein zweites Zuhause. Mein zweiter Onkel, Hüseyin, ist ein sehr ausgeglichener, verständnisvoller Mensch. Wenn ich früher Sorgen oder Probleme hatte, konnte ich mit ihm über alles reden, ohne Angst haben zu müssen, dass er es nicht versteht oder schimpft. Umgekehrt fühle ich mich auch für meine Cousinen und Cousins verantwortlich, für Beyza und die Kinder von Hüseyin, Emine und Bayram. Sie sind für mich wie leibliche Geschwister. Manchmal standen sie am Wochenende vor der Tür und haben bei uns übernachtet, das hat man einfach gemacht, das war normal – vielleicht ist das ja etwas Türkisches. Auch heute, wo ich in der Gegend von Salur lebe, kommt mein Schwager fast jeden Morgen zu uns zum Frühstücken, einfach so. In Deutschland würde man erst anrufen und fragen, ob’s recht ist, und dann würde man sich verabreden – für übermorgen.
    Etwas gemeinsam machen, das durchzieht alle Lebenslagen. Als Großfamilie sind wir fast jeden Sommer in die Türkei gefahren und haben die Ferien in Salur bei meiner Oma verbracht, und immer hatten wir Bekannte dabei. Wir fuhren in drei, vier Autos, wie in einer Karawane, nach Italien und von dort aus weiter mit dem Schiff. Meistens waren wir mit den gleichen Leuten unterwegs, denn man muss bei solchen Unternehmungen zusammenpassen, gemeinsam fahren, gemeinsam Pausen machen, frühstücken, aufeinander warten, zu einem Rhythmus finden, damit man sich nicht irgendwann auf die Nerven geht. Einmal hat ein Verwandter auf so einer Fahrt zu spüren bekommen, was passiert, wenn man diesen Rhythmus stört: Wir machten eine Rast, alle gingen auf die Toilette, nur er nicht. Als wir dann wieder weiterwollten, erklärte er plötzlich, er müsse jetzt doch noch, und verschwand in den Wald. Ich weiß nicht, wer die Idee hatte: Jedenfalls taten wir so, als ob wir ihm davonfahren, die Autos setzten sich in Bewegung … drehten aber nur eine Runde über den Parkplatz. Er rannte uns hinterher und war vollkommen aufgelöst, es war ihm eine Lehre.
    Wenn wir in Salur waren, haben sich alle Bekannten und Verwandten bei uns im Haus versammelt. Man saß beieinander, aß, unternahm was, hat Ausflüge gemacht. Salur ist klein, und vom Haus meiner Großeltern väterlicherseits kann man über den Acker zu meiner Oma mütterlicherseits laufen. Es gibt ein Café, wo die Männer hingehen, zwei kleine Läden, drei Moscheen und einen Friedhof – dort ist jetzt mein Vater begraben. Für uns Kinder steckte die Gegend voller Geheimnisse, die Ferien dort waren immer ein Abenteuer. Da ist zum Beispiel dieser besondere Baum, von dem man sagt, darunter schlafe im Erdreich ein alter Mann. Neben dem Baum entspringt eine Quelle, und wenn man ein Geldstück hineinwirft, kann es passieren, dass das Wasser zu blubbern anfängt, weil der Küküdede, der Blubber-Opa, erwacht ist und von unten ins Wasser bläst – und dann, so heißt es, soll ein Wunsch in Erfüllung gehen. Als Kind habe ich mir hier jedes Jahr etwas gewünscht, immer nur eine Sache, mehr traute ich mich nicht. Einmal, mit neun oder zehn, verbrachte ich eine Woche bei den Schafhirten in den Bergen. Sie hatten einen braven Esel, mit dem ich spielen konnte, und scharfe, gefährliche Wachhunde, zu denen ich erst Abstand hielt. Aber nach zwei Tagen wussten sie, dass ich
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