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Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)

Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)

Titel: Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)
Autoren: Semiya Simsek , Peter Schwarz
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Von wem kann man Blumensträuße beziehen? Welche Verkaufsstellen sind vielversprechend? Es ist im Grunde ganz einfach, sagten seine Gewährsleute: Die Deutschen nennen es «Reisegewerbe», du brauchst keine Geschäftsräume, keine Niederlassung, kein Lager, du brauchst nur ein Stück Papier, eine «Reisegewerbekarte», einen Straßenrand, an dem ordentlich Leute vorbeikommen – und die Blumen kriegst du bei Manfred, der verkauft sie aus seiner Garage in Friedberg heraus, oder du gehst zum Großhändler, wo sich auch Manfred eindeckt.
    So begann mein Vater 1991 seine Laufbahn als Blumenverkäufer, zunächst nur an den Wochenenden. Anfangs musste er Lehrgeld bezahlen: Er kaufte oft zu viele Sträuße und blieb darauf sitzen, weil der Großhändler sie nicht zurücknahm: Wie viel du dir holst, erklärte ihm der, ist deine Sache. Nach zwei Tagen sind die Sträuße nicht mehr frisch, ich kann die nicht weiterverkaufen. Behalte sie, wirf sie weg, schenk sie deiner Frau, deinen Nachbarn, mach Salat draus, aber zurücknehmen kann ich sie nicht … An anderen Tagen kaufte mein Vater zu wenig Blumen, stand schon am frühen Nachmittag mit leeren Händen da, musste nach Hause fahren und verpasste das beste Geschäft. Aber er begriff schnell. Muttertag zum Beispiel bedeutete: Er konnte viele Blumen verkaufen, dreimal oder fünfmal so viele wie an einem normalen Wochenende. Selbst Leute, die die bescheidenen Tisch-und-Schirm-Blumenstände am Seitenstreifen sonst keines Blickes würdigten, hielten am Muttertag plötzlich an und gaben viel Geld für einen prächtigen Strauß aus.
    Natürlich unterliefen Vater Fehler, und es war in Deutschland leicht, etwas falsch zu machen. Immer wieder rückten ihm Polizisten oder Ordnungsbeamte auf die Pelle:
    Junger Mann, das Werbeschild, das Sie da an den Leitpfosten gebunden haben – also, so geht’s ja nicht! Haben Sie für Ihre Werbeschilder überhaupt eine Genehmigung? Nein, nicht die Gewerbekarte, Sie brauchen eine extra Genehmigung für das Schild. Haben Sie nicht? Das kostet natürlich etwas …
    An Ihrem Stand fehlt Ihr Name, ist Vorschrift, und auf die Tafel hier müssen Sie die Blumenpreise schreiben, sonst könnten Sie die Preise ja gleich frei Schnauze machen, das wäre ja noch schöner …
    Es ist neunzehn Uhr, aber an diesem Standort dürfen Sie laut Genehmigungsbescheid des Liegenschaftsamtes nur bis achtzehn Uhr verkaufen … So, Sie haben Ihre Reisegewerbekarte zu Hause … Und Moment mal, Ihre Verkaufsfläche kommt mir auch ganz schön groß vor – dürfen Sie sich überhaupt so breitmachen?
    Manchmal erklärten sie meinem Vater, er müsse jetzt zusammenpacken und den Platz räumen. In der Regel gehorchte er. Einmal aber stellte er sich taub und tat, als verstehe er nichts. Er hoffte, die Polizisten würden schon irgendwann gehen. Worauf sie kurzerhand sämtliche Blumen beschlagnahmten, die Ware musste «sichergestellt» werden, so nannten die Beamten das in ihrem Bericht. «Überschreitung der gesetzlich erlaubten Verkaufszeiten», «Nicht im Besitz einer Genehmigung nach dem Bundesfernstraßengesetz», «Unerlaubte Ausdehnung der mit Sondernutzungserlaubnis zugeteilten Fläche»: Es war immer wieder derselbe Kleinkram, immer wieder derselbe Ärger; dieselben Rügen, dieselben Strafen. Die Deutschen hatten für all das Worte, die in den Ohren meines Vaters grotesk zungenbrecherisch und absurd lang klangen. Das wichtigste hieß: «Ordnungswidrigkeit».
    Anfangs musste mein Vater auch mal die Ellbogen ausfahren. Reibereien unter Blumenhändlern gehörten auf der Straße zum Alltag, manchmal hat er uns von den Diskussionen erzählt:
    Hey, was machst du hier, ich habe meinen Stand nur ein paar Kilometer weiter, du machst mir das Geschäft kaputt, ich war zuerst da!
    Ach ja, hast du die Straße gekauft, gehört sie dir?
    Und du, hast du überhaupt eine Reisegewerbekarte?
    Wer will das wissen? Bist du das Gewerbeamt?
    So röhrten sie wie die Platzhirsche und markierten ihre Reviere. Die Alten pochten auf ihr Gewohnheitsrecht, die Jungen versuchten, sich in der Hackordnung ihren Rang zu ertrotzen. Es gab ungeschriebene Gesetze, und es gab Neulinge wie meinen Vater, die sie brachen, um voranzukommen. Die Älteren, die sich besser kannten und ihren Frieden miteinander gemacht hatten, erzählten sich gegenseitig oft unter Gelächter jene Geschichte von einem, der mitten in einem Streit drohend sein T-Shirt hochstreifte, seinen mächtigen Bauchspeck entblößte, eine dicke
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