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Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)

Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)

Titel: Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)
Autoren: Semiya Simsek , Peter Schwarz
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waren Teller, Handtücher, Aussteuer darin – und ein ganzer Ordner mit den Briefen meines Vaters. Als ich all das las, begriff ich ihre Liebe, ihre Sehnsucht damals. Ich bekam eine Ahnung, wie schmerzhaft es gewesen sein muss, wenn man sich zwölf Monate lang nicht sehen konnte. Einen dieser Briefe hat er genau hundert Tage vor dem Ende der Militärzeit verfasst, und er beschreibt darin, wie sehr er sich auf das Wiedersehen freut. Zwischen die Absätze hat er kleine Gedichte eingefügt, eines heißt: «Ich werde zurückkommen».
Schau dir mal dieses Schicksal an, was hat es mit mir gemacht: Das Schicksal hat mich ganz woanders hingeschickt als dich – und ich habe Sehnsucht nach dir! Aber bitte weine nicht, ich komme zurück! Auch wenn die Tage elend langsam vorübergehen – ich trage ein Bild von dir in mir. Und für den Fall, dass mir etwas passieren sollte, trag auch du ein Bild von mir in dir. Wenn ich an dich denke, kommen mir die Tränen. Aber ich komme zurück! Und es dauert gar nicht mehr so lange.
    Immer wieder hat mein Vater solche Sätze geschrieben. «Bewahrt meine Bilder auf, das ist ein Andenken an mich.» Schon als junger Mann hat er darüber gegrübelt, dass man ja nicht wisse, was am nächsten Tag passiert, und deshalb hat er in seinen Briefen gebeten, dass man ihn nie vergessen solle, falls ihm etwas zustößt. Als habe er sein Schicksal geahnt.
    Als meine Eltern sich Briefe schrieben, haben sie sich tagelang, wochenlang auf den Postboten gefreut. Wenn ich mich heute mit den Briefen meines Vaters beschäftige, ist es ein bisschen so, als würde ich alten Geschichten zuhören. Sie verraten Dinge, die meine Eltern selbst mir nie erzählten, und sie geben mir die Gewissheit, dass ich ein Kind bin, das aus Liebe gezeugt wurde. Es ist schön, diese Briefe zu lesen – zugleich aber auch schmerzhaft, wegen all dem, was dann geschehen ist. Diese Briefe stehen am Anfang eines gemeinsamen Lebens, das noch so lange hätte dauern sollen, und Vater hatte noch so viele Ideen für die Zukunft meiner Mutter. Er hat nie einfach nur für sich geplant, sondern immer auch für sie und für uns. Meine Eltern waren sicher, dass sie sich niemals trennen würden, und diesem gemeinsamen Leben haben sie ein schönes Zeichen gesetzt: Mein Vater hat in Salur ein Grundstück gekauft und darauf zwei Zedern gepflanzt, gemeinsam mit meiner Mutter. Den Baum, der meinen Vater symbolisiert, hat meine Mutter in die Erde eingesetzt, und umgekehrt. Die beiden Bäume stehen sich dort nun über seinen Tod hinaus gegenüber. Immergrün. Und sie wachsen.

    Als mein Vater nach Deutschland kam, hatte er dichtes Haar und einen Schnauzer, wie er für viele Türken seiner Generation typisch war. Ein junger Mann mit kräftigen Armen, breitem Gesicht und einem unbändigen Tatendrang – nur hatte er leider keinerlei in diesem fremden Land brauchbare Berufsausbildung. Doch kam er zurecht, er konnte ja nun endlich, nach Jahren, bei seiner Frau sein. Zunächst schlüpfte er in Friedberg nahe Frankfurt bei seinem Schwiegervater unter, der dort mit seiner Tochter und den beiden Söhnen Hursit und Hüseyin wohnte. Hier lebten meine Eltern zum ersten Mal zusammen, wenn auch noch nicht unter einem eigenen Dach. Bald darauf kam ich zur Welt, ein Jahr später mein Bruder Kerim, und nach drei beengten Jahren in Friedberg zog die junge Familie dann nach Flieden, eine Autostunde entfernt.
    In Deutschland zu leben hieß für meinen Vater vor allem: zu arbeiten. In Friedberg hatte er drei Jahre lang am Fabrikband malocht, gemeinsam mit Hüseyin und Hursit. Nun fing er bei der Firma Phönix, einem Automobilzulieferer in Sterbfritz, nicht weit von Flieden, als Schleifer an. Vater bevorzugte die Spät- oder Nachtschichten, die Zuschläge lohnten sich. Er schuftete im Akkord, und er meldete sich immer, wenn der Meister bekanntgab, dass er Leute für Überstunden brauchte. Durch diesen Fleiß brachte er in manchen Monaten viertausend Mark nach Hause, das war viel für einen Arbeiter. Deutschland war seine Gegenwart, Deutschland würde auch fürs Erste seine Zukunft sein, zumindest für die nächsten Jahre. Aber irgendwo in der Ferne wartete Isparta. Eines Tages, darin waren sich Mutter und Vater einig, würden sie dorthin zurückkehren. Deutschland war für sie eine Station. Deshalb hielten meine Eltern ihr Geld zusammen, lebten bescheiden, und schon nach ein paar Jahren hatten sie genug gespart, um Geld anzulegen: Sie schufen sich damit die Grundlage für ihr
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