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Heute wär ich mir lieber nicht begegnet

Heute wär ich mir lieber nicht begegnet

Titel: Heute wär ich mir lieber nicht begegnet
Autoren: Herta Müller
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    Ich bin bestellt. Donnerstag Punkt zehn.
    Ich werde immer öfter bestellt: Dienstag Punkt zehn, Samstag Punkt zehn, Mittwoch oder Montag. Als wären Jahre eine Woche, mich wundert schon, daß es dabei nach dem späten Sommer bald wieder Winter ist.
    Auf dem Weg zur Straßenbahn hängen wieder die Sträucher mit den weißen Beeren durch die Zäune. Wie Perlmuttknöpfe, die unten angenäht sind, vielleicht bis in die Erde hinein, oder wie Brotkugeln. Für weiße Vogelköpfe mit weggedrehten Schnäbeln sind die Beeren viel zu klein, trotzdem muß ich an weiße Vogelköpfe denken. Davon wird man schwindlig. Lieber denk ich an Schneetupfen im Gras, aber davon wird man verloren, und von Kreide schläfrig.
    Die Straßenbahn hat keine festen Fahrzeiten.
    Mir scheint sie rauscht, wenn es nicht die hartblättrigen Pappeln sind. Sie kommt schon angefahren, heute will sie mich gleich mitnehmen. Ich hab mir vorgenommen, den alten Mann mit dem Strohhut beim Einsteigen vorzulassen. Als ich kam, stand er schon an der Haltestelle, wer weiß wielange. Gebrechlich ist er zwar nicht, aber dünn wie sein Schatten, bucklig und matt. In der Hose ist kein Hintern, keine Hüften, nur die Knie sind ausgebeult. Aber wenn er nun ausgerechnet jetzt, wenn die Wagentür aufgeht, auf den Boden spucken muß, steig ich doch vor ihm ein. Es sind fast alle Sitze frei, und er sucht sie mit den Augen ab und bleibt dann stehen. Daß so alte Leute nicht müde sind und sich das Stehen nicht für dort aufheben, wo man nicht sitzen kann. Manchmal hört man alte Leute sagen: Auf dem Friedhof liegt man noch lang genug. Dabei denken sie gar nicht ans Sterben, und sie haben auch recht. Es ging noch nie der Reihe nach, es sterben auch Junge. Ich setz mich immer, wenn ich nicht stehen muß. Auf dem Sitz zu fahren ist, als würde man im Sitzen gehen. Der Mann mustert mich, in diesem leeren Wagen spürt man das gleich. Zum Reden habe ich den Kopf nicht frei, sonst würde ich fragen, was es an mir zu sehen gibt. Es schert ihn nicht, daß sein Geschaue mich stört. Draußen zieht die halbe Stadt vorbei, zwischen Bäumen und Häusern gibt es Abwechslung. Man sagt, so alte Leute spüren mehr als junge. Vielleicht sogar, daß ich heute ein kleines Handtuch, Zahnpasta und eine Zahnbürste in der Handtasche habe. Und kein Taschentuch, denn weinen will ich nicht. Paul hat nicht gespürt, wieviel Angst ich habe, daß Albu mich heute unter sein Büro in die Zelle führen könnte. Ich habe ihm nichts gesagt, wenn es so wird, erfährt er es noch schnell genug. Die Straßenbahn fährt langsam. Der Strohhut des Alten hat ein fleckiges Band wahrscheinlich vom Schweiß oder vom Regen. Albu wird mir, wie immer, zur Begrüßung einen Handkuß mit Spucke geben.

 
    Major Albu hebt meine Hand an den Fingerspitzen und drückt mir die Nägel zusammen, daß ich schreien könnte. Mit der Unterlippe küßt er meine Finger, die obere hält er frei, damit er reden kann. Er gibt mir den Handkuß immer auf die gleiche Art, aber beim Reden sagt er immer etwas anderes:
    Na na, deine Augen sind heute entzündet.
    Mir scheint, dir wächst ein Schnurrbart, in deinem Alter ein bißchen früh.
    Ach, das Händchen ist heute eiskalt, hoffentlich nicht vom Kreislauf
    Oje, dein Zahnfleisch schrumpft, als wärst du deine Oma.
    Meine Oma ist nicht alt geworden, sage ich, es blieb ihr keine Zeit, die Zähne zu verlieren. Was mit den Zähnen meiner Oma war, wird Albu wissen, darum erwähnt er sie.
    Als Frau weiß man, wie man heute aussieht. Und daß ein Handkuß erstens nicht weh tut, zweitens nicht naß ist, drittens auf die Rückseite der Hand gehört. Wie ein Handkuß auszusehen hat, wissen Männer besser als Frauen, Albu bestimmt auch. Sein ganzer Kopf riecht nach Avril, einem französischen Parfüm, das auch mein Schwiegervater, der Parfümkommunist, benutzte. Alle anderen Leute, die ich kenne, würden es nicht kaufen. Es kostet auf dem Schwarzmarkt mehr als ein Anzug im Laden. Vielleicht heißt es auch September, den bitteren, rauchigen Geruch von brennendem Laub verwechsle ich aber nicht.
    Wenn ich mich an den kleinen Tisch gesetzt habe, sieht Albu, daß ich die Finger an meinem Rock reibe, nicht nur, um sie wieder zu spüren, sondern auch, um die Spucke abzuwischen. Er dreht an seinem Siegelring und schmunzelt. Und wenn schon, Spucke kann man abwischen, sie trocknet sogar von selbst und ist nicht giftig. Spucke hat jeder im Mund. Andere spucken auf den Gehsteig und zerreiben
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