Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Heute wär ich mir lieber nicht begegnet

Heute wär ich mir lieber nicht begegnet

Titel: Heute wär ich mir lieber nicht begegnet
Autoren: Herta Müller
Vom Netzwerk:
Wangen sind den Männern so vertraut wie den Frauen die Heilige Maria mit dem Kind. Es heißt, die Pflaumen zeigen die Liebe zwischen dem Trinker und der Flasche. In meinen Augen ähneln die Pflaumen mit aneinander gelehnten Wangen mehr den Hochzeitsbildern als der Maria mit dem Kind. Auf keinem Bild in der Kirche ist der Kopf des Kindes so hoch wie der seiner Mutter. Das Kind lehnt die Stirn an die Wange der Heiligen, seine Wange an ihren Hals und sein Kinn an ihre Brust. Außerdem kommt es zwischen dem Trinker und der Flasche wie bei den Paaren auf den Hochzeitsbildern, sie machen einander zunichte und lassen einander nicht los.
    Ich trage auf meinem Hochzeitsbild mit Paul keine Blumen, keinen Schleier. Mir glänzt die Liebe neu in den Augen, doch ich heirate zum zweiten Mal auf diesem Bild. Unsere Wangen lehnen wie zwei Pflaumen aneinander. Seit Paul so viel trinkt, ist unser Hochzeitsbild Wahrsagerei. Wenn Paul bis zum späten Abend auf Sauftour in der Stadt ist, hab ich Angst, daß er nie mehr nach Hause kommt und sehe das Hochzeitsbild an der Wand so lange an, bis sich der Blick verschiebt. Dann schwimmen unsere Gesichter, die Stellung unserer Wangen ändert sich, zwischen ihnen steht ein bißchen Luft. Meist schwimmt Pauls Wange von meiner Wange weg, als käme er spät nach Haus. Aber er kommt, Paul ist noch immer nach Haus gekommen, sogar nach dem Unfall.
    Manchmal wird polnischer Büffelgrasvodka geliefert, der süßbittere, gelbe. Er wird zuerst verkauft. In jeder Flasche steht ein langer, ertrunkener Halm, der beim Einschenken zittert, aber nie umfällt oder herausgeschwemmt wird. Trinker sagen:
    Der Grashalm bleibt in der Flasche wie die Seele im Körper, darum behütet er die Seele.
    Zu dem brennenden Geschmack im Mund und dem flackernden Suff im Kopf gehört dieser Glaube. Die Trinker öffnen die Flasche, das Einschenken gluckst im Glas, der erste Schluck läuft in den Hals. Die Seele, die immer zittert, nie umfällt und den Körper nie verläßt, fängt an, behütet zu werden. Auch Paul behütet seine Seele und muß sich keinen Tag sagen, daß sein Leben nicht zu packen ist. Vielleicht wäre es gut ohne mich, doch wir sind gerne zusammen. Der Schnaps nimmt den Tag weg und die Nacht den Suff. Aus der Zeit, als ich noch frühmorgens zur Konfektionsfabrik mußte, weiß ich, daß die Arbeiter sagten: Das Laufwerk der Nähmaschinen ölt man durch die Rädchen, das Gehwerk der Menschen durch den Hals.
    Damals fuhren Paul und ich jeden Tag um Punkt fünf mit dem Motorrad zur Arbeit. Wir sahen die Lieferwagen vor den Läden, die Fahrer, Kistenträger, die Verkäufer und den Mond. Jetzt höre ich nur den Lärm und gehe nicht zum Fenster, und sehe auch den Mond nicht an. Ich weiß noch, daß er wie ein Gänseei auf der einen Seite des Himmels aus der Stadt hinausgeht und auf der anderen die Sonne kommt. Daran hat sich nichts geändert, auch bevor ich Paul kannte und zu Fuß bis zur Straßenbahn ging, war es so. Es war mir auf dem Fußweg nicht geheuer, daß am Himmel oben etwas Schönes ist, und auf der Erde unten kein Gesetz, welches das Hinaufsehen verbietet. Es war also erlaubt, dem Tag etwas abzuluchsen, bevor er elend wurde in der Fabrik. Ich fror, weil ich mich nicht satt sehen konnte, nicht weil ich zu dünn angezogen war. Der Mond ist zerfressen um diese Zeit, weiß am Ende der Stadt nicht wohin. Der Himmel muß den Boden loslassen, wenn es hell wird. Die Straßen laufen steil hinunter und hinauf auf ebener Erde. Die Straßenbahnwagen fahren hin und her wie beleuchtete Zimmer.
    Auch die Straßenbahnen kenne ich von innen. Wer um diese Uhrzeit einsteigt, ist kurzärmlig, trägt seine abgewetzte Ledertasche und an beiden Armen Gänsehaut. Er wird mit trägen Blicken abgeurteilt. Man ist unter sich, die Arbeiterklasse. Bessere Leute fahren mit dem Auto zur Arbeit. Und untereinander vergleicht man: Der hat es besser, der schlechter. Genau wie man selbst hat es keiner, das gibt es nicht. Man hat wenig Zeit, bald kommen die Fabriken, die Taxierten steigen nacheinander aus. Geputzte oder staubige Schuhe, schiefe oder gerade Absätze, ein frischgebügelter oder verhutzelter Kragen, Fingernägel, Uhrriemen, Gürtelschnalle, Scheitellauf, alles pocht auf Neid oder Verachtung. Vor verschlafenen Blicken kann sich nichts verbergen, nicht einmal im Gedränge. Die Arbeiterklasse sucht Unterschiede, es gibt keine Gleichheit am Morgen. Die Sonne fährt innen mit und zieht draußen die Wolken weiß und rot nach oben für
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher