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Heute wär ich mir lieber nicht begegnet

Heute wär ich mir lieber nicht begegnet

Titel: Heute wär ich mir lieber nicht begegnet
Autoren: Herta Müller
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großen Perlmuttknopf, den ich damals für Lilli in der Fabrik unter vielen Knöpfen ausgesucht und genommen habe.
    Beim Verhör sitze ich an dem kleinen Tisch, dreh an dem Knopf und antworte ruhig, wenn auch alle Nerven in mir summen. Albu geht auf und ab, daß er richtig fragen muß, frißt seine Ruhe genauso, wie es meine frißt, daß ich richtig antworten muß. Solange ich gelassen bleibe, hat er etwas, vielleicht alles, falsch angepackt. Wenn ich vom Verhör nach Hause komme, ziehe ich die graue Bluse an. Sie heißt: die Bluse, die noch wartet. Sie ist von Paul. Sicher kommen mir oft Bedenken wegen dieser Namen. Aber geschadet haben sie noch nicht, nicht einmal an den Tagen, wenn ich nicht bestellt war. Die Bluse, die noch wächst, hilft mir, und die Bluse, die noch wartet, hilft vielleicht Paul. Seine Angst um mich steht bis zur Decke, so wie meine um ihn, wenn er in der Wohnung sitzt und wartet und trinkt oder in der Stadt auf Sauftour ist. Man hat es leichter, wenn man selber weg muß, die Angst wegträgt, und das Glück da läßt, und vom anderen erwartet wird. Zu Hause sitzen und warten dehnt die Zeit zum Zerreißen und treibt die Angst auf die Spitze.
    Was ich den Sachen, die ich mir angewöhnt habe, zutraue, kann ein Mensch nicht tun. Albu schreit:
    Siehst du, die Dinge verbinden sich.
    Und ich drehe an dem großen Knopf meiner Bluse und sag: Bei Ihnen, bei mir nicht.
     
     
    Der Alte mit dem Strohhut hat kurz vor dem Aussteigen seine wäßrigen Augen von mir genommen. Jetzt sitzt ein Vater mit einem Kind auf dem Schoß auf dem gegenüberliegenden Sitz und stellt die Beine in den Gang. Mit Hinaussehen, wie die Stadt vorbeizieht, hat der nichts im Sinn. Sein Kind steckt ihm den Zeigefinger in die Nase. Den Finger krumm machen und Popel suchen, das lernt man früh. Und später wird einem gesagt, daß man nur in der eigenen Nase Popel sucht, und nur dann, wenns keiner sieht. Für den Vater ist es noch nicht später, er lächelt, vielleicht tut es ihm gut. Die Straßenbahn hält ohne Haltestelle, der Schaffner steigt aus. Wer weiß, wielange wir hier stehen werden. Es ist erst früher Vormittag, und er stiehlt sich mitten in der Route eine Pause. Hier tut doch jeder, was er will. Er geht zu den Läden hinüber, bringt noch sein Hemd und die Hose in Ordnung, damit man nicht sieht, daß er seine Straßenbahn mitten auf der Strecke stehngelassen hat. Er spielt sich auf, als würde er vor lauter Langeweile auf dem Sofa die Nase mal in die Sonne hinaus spazieren tragen. Wenn er im Laden etwas kaufen will, wird er schon sagen müssen, wer er ist, sonst muß er Schlange stehen. Wenn er nur Kaffee trinkt, dann hoffentlich im Stehen. Schnaps kann er sich nicht erlauben, auch wenn sein Fenster offen ist. Alle, wie wir hier sitzen, hätten das Recht, nach Schnaps zu riechen, außer ihm. Aber er tut so, als wär es umgekehrt. Wo ich Punkt zehn sein muß, bringt mich, was den Schnaps betrifft, in seine Lage. Ich würd lieber aus seinen Gründen auf Schnaps verzichten als aus meinen. Wer weiß, wann er wiederkommt.
     
     
    Seit ich mein Glück zu Hause lasse, bin ich beim Handkuß nicht mehr so lahm wie vorher. Ich biege die Fingergelenke nach oben, daß Albu nicht mehr ungehindert reden kann. Paul und ich haben den Handkuß geübt. Da wir wissen wollten, ob Albus Siegelring an seinem Mittelfinger fürs Fingerquetschen beim Handkuß wichtig ist, habe ich aus einem Stück Gummi und einem Mantelknopf einen Ring genäht. Wir haben ihn abwechselnd getragen und so viel gelacht, daß uns der Grund des Übens abhanden kam. Seither weiß ich, daß ich meine Hand nicht auf einmal, sondern immer ein bißchen mehr hinaufbiegen soll. Dann stehen die Fingerknochen an seinem Zahnfleisch und hindern ihn am Sprechen. Manchmal fällt mir bei Albus Handkuß das Üben mit Paul ein. Dann können mich die Schmerzen an den Nägeln und der Speichel nicht so demütigen. Man lernt dazu, aber ich darf es nicht zeigen, lachen darf ich auf keinen Fall.
    An dem Turmblock, in dem Paul und ich wohnen, kann man von der Straße beim Herumspazieren oder aus dem Auto nur den Eingang und die unteren Stockwerke genau beobachten. Vom fünften Stock aufwärts liegen die Wohnungen zu hoch, bestimmt braucht man technische Finessen, um Einzelheiten zu sehen. Außerdem macht der Turmblock ungefähr in der Mitte seiner Höhe eine Biegung nach außen. Wenn man lange hinaufsieht, laufen einem die Augen in die Stirn hinein. Ich hab es oft probiert, der Hals wird
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