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Viele Mütter heißen Anita

Viele Mütter heißen Anita

Titel: Viele Mütter heißen Anita
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Vorwort
    Bis zum Beginn unseres Jahrhunderts – genau bis zum Jahre 1904 – gab es für die Ärzte und von ihnen wieder für die Chi rurgen zwei ›Heiligtümer‹ am menschlichen Körper: das Gehirn und das Herz. An das Gehirn, die Schaltstelle allen Lebens, wagten sich nur wenige heran … auch wenn man heute weiß, daß es sogar Ärzte im alten Ägypten, etwa 2.000 Jahre vor Christi, gegeben hat, die Schädeltrepanationen ausführten und versuchten, Tumore aus dem Hirn zu entfernen, blieb das Gehirn immer ein Geheimnis. Bis heu te, obwohl man heute so viel von den Hirnfunktionen weiß und die Neurochirurgie wahre Wunder an Heilungen vollbracht hat. Die Überraschungen reißen nie ab, es ist, als ob man auf einem neuen Land steht und es bereits beackert hat, aber was unter dem Land liegt, verbirgt sich noch den Blicken.
    Die Herzchirurgie, das zweite Tabu der Mediziner, hat von jeher fasziniert. Was heute selbstverständlich ist: Eröffnung des Brustraumes, Entfernung von Lungenlappen, Operationen am offenen Herzen, Herznähte, Teiltransplantationen am Herzen oder die spektakuläre Herztransplantation an sich, das war bis zu jenem denkwürdigen Jahr 1904 eine Art Wunschtraum der Chirurgie gewesen. Es gab eine unüberwindbare Schranke, in das Innere des Brustkorbes vorzudringen: der verschieden große Luftdruck von Brustinnenraum und Außenwelt. Gab es Verletzungen, die den Brustraum öffneten, geschah immer das gleiche; die Lunge blähte sich auf, es kam zu dem tödlichen Pneumothorax. Ratlos standen die Chirurgen vor dieser Tatsache, die nach landläufiger Meinung nicht zu besiegen war … und damit war auch alles, was mit dem Brustinnenraum und dem Herzen zu tun hatte, chirurgisch unbesiegbar. Bis im Jahre 1904 – nach langer Forschungsarbeit – der Chirurg Prof. Sauerbruch, damals junger Assistenzarzt in Breslau, eine der genialsten Erfindungen in der Medizin machte. Das Druckdifferenzverfahren in Form einer luftdicht schließenden, gläsernen Operationskammer, in der durch Absaugen der Luft der gleiche Unterdruck herrschte wie im menschlichen Brustkorb. Damit war der Weg frei zu den Operationen am freiliegenden Herzen.
    Heute ist das Sauerbruch'sche Verfahren bis zur Perfektion verfeinert. Statt Unterdruck arbeitet man heute mit Überdruck, kombiniert mit der Narkose oder mit der Intubationsnarkose, die mit einer rhythmischen Lungenbeatmung gekoppelt ist. Man schließt die Kranken an die Herz-Lungen-Maschine an, die den gesamten Blutkreislauf außerhalb des Körpers übernimmt und das Herz nur noch zu einem Klumpen Fleisch degradiert, oder man legt den Patienten in ein Eisbett und operiert im Unterkühlverfahren. Das Mysterium Herz hat weitgehend seine Rätsel gelüftet (anders als das Gehirn!), und jeden Tag finden überall auf der Welt Operationen am offenen Herzen statt, ohne daß man noch darüber spricht. Es ist selbstverständlich geworden.
    Das war es vor dreißig oder vierzig Jahren, trotz der bekannten Operationsmethoden, aber noch lange nicht. Die Eröffnung des Brustraumes war zwar Allgemeingut der Chirurgie geworden, aber noch immer galt damals die Arbeit am freiliegenden Herzen als eine Pioniertat. Wer damals – vor knapp dreißig Jahren (und was sind dreißig Jahre?!) – gesagt hätte, er wolle ein Herz oder ein Teil des Herzens austauschen, den hätte man für einen Phantasten gehalten, für einen Scharlatan, für einen Arzt ohne Verantwortung. Das ›Unmöglich‹ war damals wie ein Gesetz. Nicht, daß man es technisch nicht hätte bewältigen können, dafür waren die Voraussetzungen da … aber noch immer war das Herz – wie das Hirn – ein Stück Mensch, vor dem jeder Chirurg eine heilige Scheu empfand. Außerdem stand man machtlos vor einer Tatsache: die Immunschranke, die Unverträglichkeit des körperfremden Eiweißes, die unumstößliche Erkenntnis, daß sich das Transplantat abstoßen mußte, weil sich der Körper gegen die Einpflanzung des fremden Stückes wehrte. Es ist ein Problem, das auch heute noch nicht gelöst ist und die hohe Sterbequote bei Herztransplantationen herbeiführt.
    In diese Jahre, in denen Operationen am offenen Herzen und Verpflanzungen von Herzteilen noch als Abenteuer galten, führt der vorliegende Roman den Leser. Zudem spielt er noch in einem Land, das durch seine Religion, durch seine hohen ethischen Wertbegriffe, durch religiösen Fanatismus und eine ungeheure Strenge gegenüber Sittengesetzen seit Jahrhunderten eine Ausnahmestellung innerhalb Europas
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