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Heute wär ich mir lieber nicht begegnet

Heute wär ich mir lieber nicht begegnet

Titel: Heute wär ich mir lieber nicht begegnet
Autoren: Herta Müller
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es mit dem Schuh, weil es sich nicht einmal auf dem Gehsteig gehört. Albu spuckt bestimmt nicht auf den Gehsteig, in der Stadt, wo man ihn nicht kennt, spielt er den feinen Herrn. Meine Nägel tun weh, aber er hat sie noch nie blau gedrückt. Sie tauen wieder auf, als kämen eiskalte Hände plötzlich ins Warme. Daß ich glaub, mir rutscht das Hirn vornüber ins Gesicht, das ist das Gift. Demütigung, wie soll man es anders sagen, wenn man sich am ganzen Körper barfuß fühlt. Nur was dann, wenn sich mit dem Wort nicht viel sagen läßt, wenn das beste Wort schlecht ist.
     
     
    Seit drei Uhr heute morgen hab ich gehorcht, wie der Wecker tickt: Bestellt, bestellt, bestellt... Im Schlaf tritt Paul quer durchs Bett und zuckt zurück, so schnell, daß er ohne aufzuwachen selber erschrickt. Das ist eine Angewohnheit. Mein Schlaf ist vorbei. Ich liege wach und weiß, daß ich die Augen schließen müßte, um wieder einzuschlafen. Aber ich schließe sie nicht. Ich habe das Schlafen schon öfter verlernt und wieder lernen müssen, wie es geht. Es geht ganz einfach oder gar nicht. Alles schläft gegen Morgen, auch Katzen und Hunde streifen nur die halbe Nacht um die Mülltonnen. Wenn man weiß, daß man doch nicht schlafen kann, ist es leichter, im dunklen Zimmer an etwas Helles zu denken, als vergebens die Augen zuzudrücken. An Schnee, geweißte Baumstämme, weiße Zimmer, viel Sand – damit hab ich mir öfter, als mir lieb war, bis es hell wurde, die Zeit vertrieben. Heute morgen hätte ich an Sonnenblumen denken können, und tat es auch, aber vergessen, daß ich für Punkt zehn bestellt bin, kann ich dabei nicht. Seit der Wecker bestellt, bestellt, bestellt tickte, habe ich an Major Albu denken müssen, noch bevor ich an mich und Paul gedacht habe. Heute war ich, als Paul zuckte, schon wach. Ich hatte schon, als das Fenster grau wurde, an der Zimmerdecke ganz groß Albus Mund gesehen, die rosa Zungenspitze hinter der unteren Zahnreihe, und die mokante Stimme gehört:
    Warum die Nerven verlieren, wir fangen erst an.
    Nur wenn ich zwei, drei Wochen nicht bestellt bin, werde ich von Pauls Beinen geweckt. Dann bin ich froh, es zeigt sich, daß ich wieder gelernt habe, wie das mit dem Schlafen geht.
    Wenn ich das Schlafen wieder gelernt hab und Paul morgens frage: was hast du geträumt, kann er sich an nichts erinnern. Ich zeige ihm, wie er mit gespreizten Zehen ausschlägt, dann die Beine schnell zurücknimmt und die Zehen krümmt. Ich zieh den Stuhl vom Tisch in die Küchenmitte, setz mich hin, halte die Beine in die Luft und führe das Ganze vor. Paul kann dabei lachen, und ich sage:
    Du lachst über dich.
    Na ja, vielleicht bin ich im Traum Motorrad gefahren und habe dich mitgenommen, sagt er.
    Das Zucken ist wie vorpreschen und mittendrin fliehen, ich bilde mir ein, es kommt vom Trinken. Das sage ich nicht. Und nicht, daß die Nacht das Torkeln aus Pauls Beinen mitnimmt. So muß es sein, sie packt es an den Knien, zieht es zuerst in die Zehen, dann ins sackdunkle Zimmer. Und gegen Morgen, wenn die Stadt ganz für sich schläft, ins Schwarze auf der Straße draußen. Wenn es nicht so wäre, könnte Paul beim Aufwachen nicht gerade stehen. Wenn die Nacht von jedem den Suff nimmt, müßte sie gegen Morgen voll sein bis zu den Sternen. Es trinken so viele in der Stadt.
    Kurz nach vier sind auf der Ladenstraße unten die Lieferwagen angekommen. Sie zerreißen die Stille, brummen viel und liefern wenig, einige Kisten mit Brot, Milch und Gemüse und viele mit Schnaps. Wenn da unten das Essen ausgeht, finden Frauen und Kinder sich damit ab, die Schlangen gehen auseinander, die Wege führen nach Haus. Aber wenn die Flaschen ausgehen, verfluchen die Männer ihr Leben und ziehen das Messer. Die Verkäufer reden ihnen zu, aber das hält nur, bis sie wieder draußen sind. Sie gehen auf die Suche, streichen in der Stadt herum. Die ersten Schlägereien gibt es, weil sie keinen Schnaps finden, die nächsten, weil sie vollgesoffen sind.
    Der Schnaps wächst zwischen den Karpaten und der dürren Ebene im Hügelland. Da stehen Pflaumenbäume, daß man die winzigkleinen Dörfer dazwischen kaum sieht. Ganze Wälder, im Spätsommer blau angeregnet, die Äste tragen sich krumm. Der Schnaps heißt wie das Hügelland, doch niemand benutzt den Namen auf dem Etikett. Namen bräuchte er keinen, es gibt nur einen Schnaps im Land, und die Leute nennen ihn nach dem Bild des Etiketts: «Zwei Pflaumen». Die beiden Pflaumen mit aneinander gelehnten
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