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Heute wär ich mir lieber nicht begegnet

Heute wär ich mir lieber nicht begegnet

Titel: Heute wär ich mir lieber nicht begegnet
Autoren: Herta Müller
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Fenster werfen, war körperlich, zwar keine Liebe, doch körperlicher als hinausfliegende Kleider. Das Sonntagskleid, in dem Frau Micu an diesem Mittwoch aufs Reichwerden gewartet hatte, hing nun wieder im Schrank. Aber ihren Körper, den trug sie. Wenn Frau Micu im Eingang lehnt, sich von jetzt nicht mehr kennt, umso besser aber von vor zwanzig Jahren, will ich sie fliehen. Ihr abgelebtes Fleisch schaut nicht selbstvergessen wie an meiner Mama in die Sonne, sondern zum Anfassen bereit. Herr Micu sagte einmal zu Paul:
    Jeder Beischlaf ist ein Löffel Zucker für ihre abgedancten Nerven, das einzige, wodurch ich meine Frau bei Sinnen halten kann.
    Bei Sinnen, fragte Paul.
    Bei Sinnen, ich hab gesagt bei Sinnen, nicht bei Verstand.
    Wenn die Nachttischlampe nicht den Beischlaf, sondern die letzte Meldung im Notizbuch beleuchtete, sollte das Bettzeug dem Stift entgehen. Ich machte kein Licht im Eingang, trug es wie eine Diebin zum Lift. Als ich mit den Steppdecken oben ankam, lag Paul im Pyjama auf dem weißen Kissen wie ein gestreiftes Papier. Er zog die Knie an den Bauch und fragte:
    Hat jemand dich gesehen.
    Ich deckte ihn zu, und die zweite Decke legte ich auf meinen Platz und zog die Falten glatt, als läge auf dem Leintuch die Frau, die ich sein möchte ab morgen früh –eine, die den wilden Suff nicht länger hinnimmt. Paul sah zur Zimmerdecke und sagte:
    Tut mir leid.
    So etwas hörte ich so gut wie nie. Nicht einmal, wenn es ihm in den Wangen mahlte, das Kinn verzog. Entschuldigungen ließ er stets unterm Gesicht liegen, er gab sich selber nicht nach. Was und wie hatte es damit zu tun, daß ich mir am nächsten Tag eine Lüge überlegte und aus der Ladenstraße mit einem Netz Kartoffeln in die Stille der Apotheke kam und sagte:
    Meinem Opa ist beim Holzhacken ein Splitter ins Auge gespritzt. Er hat das rechte Auge verloren, er wohnt weit von hier und kann nicht in die Stadt kommen. Er geht nicht aus dem Haus seither, nicht einmal in die Kirche oder zum Frisör. Er schämt sich vor den Leuten, ich möchte ihm ein Auge kaufen.
    Mit Toten kann man unbekümmert lügen, es wird nichts mehr davon wahr. Bei guten Lügen, bei Albu, spür ich das Gelingen, weil ich mir von einem Wort zum andern selber glaube. Das Holzhacken war miserabel, ich habe so viel in Angst und für andere gelogen, daß ich ohne Angst und für mich nicht mehr lügen kann. Die Apothekerin, mit dem Straßenkleid unterm weißen Kittel stand sie da, wie zwei ineinander gesteckte Frauen, eine ältere und eine junge. Die im Straßenkleid wußte, wie der Schmerz quält, die im Kittel, wie man ihn behandelt. Aber keine von beiden hat ein Maß für gute Lügen. Dennoch schlug die Apothekerin die Augen nieder und sagte:
    Sie können es kaufen, auch ohne Rezept, es wird schon passen, umtauschen können Sie es nicht. Nehmen Sie eins aus der Vitrine, Sie kriegen auch zwei.
    Sie lachte.
    Auch drei, es sind weißgott genug da und fangen den Staub.
    Ich nahm ein dunkelblaues Glasauge, in der Vitrine war die erste Lücke. Mein Opa hatte braune Augen mit dem Halbglanz, den Glas nicht bringt, weil es nicht gelitten hat. Mein gekauftes Auge ließ eine Schlehe ins Wasser, aber das Wasser war Eis. Ein Auge, das sich an Lilli messen wollte, und es zu nichts brachte, was verblüfft. Ihre Tabakblütennase hätte erst recht keine Hand und keine Maschine nachmachen können.
    Bevor ich die Kartoffeln kaufte, war ich in der Alimentara bei den Süßigkeiten gewesen. In den übereinander stehenden Glasbehältern sah ich rote Bonbons, an denen tote Wespen klebten, dann rostige Rasierklingen, dann zerbrochene Kekse, dann Streichholzschachteln, dann verklebte grüne Bonbons mit Wespen. Und im Wandregal wechselten Flaschen ihre Farben, gelber Eierlikör, rosa Himbeersaft, grünlicher Franzbranntwein, wasserklarer Nagellackentferner. Was da stand, war sich nicht sicher, ob es nichts anderes ist. Der Verkäufer, als wäre aus Streichhölzern, Rasierklingen, verklebten Bonbons und Keksen ein Mensch geworden, der gleich wieder zerfällt.
    Hundert Gramm von den süßen Rasierklingen, sagte ich.
    Schau, daß du weiterkommst, schrie er, kauf dir besser etwas in der Apotheke, du hast doch einen Hieb.
    Ich hatte einen, mir drehte sich die Ware am Verstand vorbei. Ich ging in den Gemüseladen und war froh, daß die Kartoffeln aus der Kiste auf der Waagschale nicht Schuhe oder Steine werden. Ich trug zwei Kilo Kartoffeln in der Hand und im Kopf die Unumstößlichkeit der Dinge. Damit ging
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