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Heute wär ich mir lieber nicht begegnet

Heute wär ich mir lieber nicht begegnet

Titel: Heute wär ich mir lieber nicht begegnet
Autoren: Herta Müller
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noch Paul. Man sieht, was du denkst, sagt der Major. Wenn es stimmt, müßte ich den Leuten ansehen, ob auch sie bestellt werden, mindestens den Nachbarn. Kann sein, daß sie mir Albu ansehen, zeigen wollen sie es nicht.
    Der alte Micu, der unten neben dem Eingang wohnt, hat mir im vergangenen Jahr, im September, einmal gesagt, daß er im April bestellt gewesen war.
    Deinetwegen, hat er gesagt.
    Als wäre ich schuld. Als ich zu Paul in den Turmblock zog, hat er mich gesiezt. Seit er bestellt und ich schuld war, duzt er mich. Er war der Schofför des Direktors der Schuhfabrik und gut gepackt, wie er ist, bestimmt auch eine Art Leibwächter, meint Paul. Frau Micu war Sekretärin auf dem Musiklyzeum. Sie haben zwei Söhne, die selten schreiben und nie kommen. Paul redet öfter mit Herrn Micu, mehr über Frau Micu als über sich und ihn. Sie ist in seinem Alter und seit der Rente immer zu Hause. Und er streift den ganzen Tag am Eingang oder auf der Ladenstraße umher und sucht Gesprächspartner.
    Er saß am Eingang auf der Treppe und aß frischgewaschene blaue Trauben, als ich nach Hause kam. Er stand auf und begleitete mich hinein, und seine Trauben tropften bis zum Lift. Erst als ich auf den Knopf gedrückt hatte und der Lift oben zu rumpeln begann, sagte er mir, daß er meinetwegen bestellt gewesen war.
    Warum sind Sie hingegangen, sagte ich. Ich muß gehen, weil ich meinetwegen bestellt werde. Wegen anderen würd ich nicht gehen.
    Wer glaubt das, sagte er.
    Mit dem Daumen und Mittelfinger riß er, schneller als ich zählen konnte, die Beeren ab und hielt den Mund an mein Ohr, jede Beere spritzte, wenn er draufbiß. Seinen kleinen Finger streckte er weg, er affektierte, was einen Mann wie ihn, dem das Gebiß beim Essen quietscht, noch häßlicher macht. Ob ich ein paar Beeren wolle, fragte er, weil ich seine Hand nicht aus den Augen ließ.
    Ich werf dir ja nichts vor, sagte er.
    Was wollen Sie dann.
    Ich hab auch Kinder.
    Kinder zieht man nicht in sein Vertrauen, sagte ich.
    Als der Lift unten war und die Tür aufging, streckte er den Kopf hinein, als könnte, wenn der Boden leer ist, dennoch jemand an der Decke stehen. Er stellte den Fuß in die offene Tür.
    Ich hab dich hier abgepaßt, weil man nie weiß, wann du kommst. Ich muß es aufschreiben.
    Eines seiner Augen spiegelte den letzten Briefkasten hinter mir an der Wand, oder wurde die Pupille in seinem Augapfel von sich aus weiß und viereckig. In sein anderes Auge hab ich nicht mehr hineingeschaut, weil er flüsterte:
    Zwei Rechenhefte sind schon voll, ich muß sie selber kaufen.
    Er hatte alle Trauben abgerissen, an jedem feinen Stiel des Strunks hing noch ein Fetzen blauer Haut. Dann sah er die Briefkästen entlang zum Eingang.
    Ich hab dir nichts gesagt, ich hab geschworen, was heißt geschworen, alles schriftlich, schwarz auf weiß.
    Frau Micu spielt seit einem halben Leben Lotto. Nachdem sie in Rente ging, wuchs das Spiel sich aus. Sie wußte schon immer, daß ihr einmal im Leben ein großer Reichtum in den Schoß fällt. Und weil es spät geworden ist, glaubt sie immer mehr daran. Sie wartet jeden Mittwoch, wenn die Ziehungen bekanntgegeben werden, im rotgeblümten Sonntagskleid. Im Vorzimmer stehen ihre braunen Lackschuhe, um hineinzuschlüpfen, wenn der Lottobote klingelt. Meist klingelt es den ganzen Mittwoch nicht, weil man im Wohnblock die Heikelkeit dieses Tages mittlerweile kennt. Und wenn schon, traut sich höchstens der Briefträger oder ein vergeßlicher Nachbar vor die Tür. Wenn Frau Micu in ihrer Sonntagsaufmachung die Tür von innen langsam schließt, ist sie wieder ein Mal mehr betrogen. Dann stürzt alles ein, sie steckt ihr Gesicht in den Lehnstuhl und schluchzt. Herr Micu zerschlägt ein paar Teller an der Wand und fegt die Scherben auf. Dann hat er sich im Griff und tröstet sie. Bald kommt die Schlagersendung im Lokalradio. Alles glättet sich im Lauf der Woche, bis es Mittwoch und seine Frau wieder soweit ist. Paul hat sie hinter der Tür oft weinen gehört und Herrn Micu gefragt, wie er das aushält. Er habe sich an sein Kreuz gewöhnt, sagte er. Genauso wie er sich, als er noch Schofför und sie noch Sekretärin war, daran gewöhnt hat, daß sie in der Schule und in der Stadt Rubine sammelt, rote Glasscherben. Sie war immer schon ein bißchen musisch, sagt er. Als die erste Schatulle mit Glasscherben voll war, ging sie damit ins Stadtmuseum, und dann zu einem Goldschmied. Da sie mit Selbstmord drohte, hat Herr Micu sie zum Uhrmacher
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