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Heute wär ich mir lieber nicht begegnet

Heute wär ich mir lieber nicht begegnet

Titel: Heute wär ich mir lieber nicht begegnet
Autoren: Herta Müller
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hintere Arm war bedeckt, als Lilli sagte:
    Jetzt bist du dran.
    Es kam nicht dazu, man hörte Schritte im Gang, Lilli rannte die Treppen herunter. Ihre Sandalen hatten nur zwei schmale Riemen, ihre Knöchel hüpften, ihr Kleid flatterte. Von hier unten reichten Lillis Schenkel bis an ihren Hals hinauf Im Hof kicherten wir, sie lauter als ich, aber da weinte sie, womöglich schon seit sie kicherte. Als ich schluckte, lachte sie wirklich, wischte die Augen trocken und sagte:
    Das ist nur Wasser. Erinnerst du dich noch an Anton, den Lederwarenhändler.
    Der mit der Warze am Nasenflügel.
    Nein, das war doch der Fotograf.
    Der aufs Land gezogen ist.
    Ja. Er hatte Wasser, und es ging nicht mehr weg. Er ist hier im Spital gestorben, vorgestern, und ich hab nichts gewußt. Weißt du noch, wie wir erwischt wurden.
    Nein, nicht einmal, daß er Anton heißt.
    Es hat geklopft, zwei Revisors standen in der Tür, und ich war in der Unterwäsche. Die haben geschluckt wie du zuvor. Sie haben sich jeder auf einen Stapel Lederjacken gesetzt, das Kinn in die Hand gestützt und miteinander getuschelt. Und Anton hat Lederröcke an mich gehalten, als wäre ich eine Kundin. Ein Rock größer als der andere, damit ja keiner paßt. Dann hat er mit Handspannen meine Hüftweite gemessen, den Hintern und die Länge bis ins halbe Knie. Wenn man so schlank ist, reicht ein Kalb für einen Rock am Stück, hat er gesagt, geblinzelt und zu den Revisors geschaut. Die Maße hat er in Zentimetern auf eine Pralinenschachtel geschrieben, die, seit ich ihn kannte, dort herumstand, und den Bleistift steckte er hinters Ohr. Bauch haben sie keinen, am Hintern zwei Einnäher, das ist alles, sonst keine Naht. Dann servierte er Pralinen. Der eine Revisor nahm sich eine Handvoll, und sein Kompagnon schickte Anton eine Stunde spazieren. Und ich, ich sollte bleiben. Da hat Anton die Pralinenschachtel zugemacht und beide rausgeschmissen und gesagt:
    Lieber schlag ich euch tot.
    Darum mußte er aufs Land.
    Wärst du noch gerne hingegangen.
    Ja.
    Aber damals hast du gesagt, jetzt hab ich ihn vom Hals. So war es auch.
    Hat er dir dann doch gefehlt.
    Überhaupt nicht, sagte Lilli.

 
    Die Kirschesserin neben mir hat ihre Hand geleert, alle Kerne in eine Lücke ihrer vollen Tasche fallen lassen und das leere Stanitzel zerknüllt und draufgestopft. Ihre verschmierten Hände hat sie eine an der anderen abgerieben, dann am Kleid. In seinem roten Blumenmuster sieht man die Flecken nicht. Ich sehe einen hochgestreckten Arm mit der Mappe, den Kopf sehe ich auch. Wo er gesteckt hat bisher, ist er also am Markt doch noch eingestiegen. Soviel Zeit, wie ich dachte, hat er wohl doch nicht. Oder macht ihm Gedränge nichts aus. Manche drängen sich gern und suchen Streit. Und haben noch Glück, denn es gibt solche Mummel, die über sich herziehen lassen und schweigen. Die Kirschesserin ist aufgestanden und quetscht sich in den Gang. An der nächsten Haltestelle muß auch ich aussteigen, dort steigen viele aus. Die Überlandbusse stehen um die Ecke. Die Leute mit Körben, Säcken und Kannen steigen alle dort aus und fahren vom Busbahnhof in ihre Dörfer. Auch der mit der Mappe steigt dort aus und fährt aufs Land, oder wohnt er hier in der Nähe. Womöglich haben wir denselben Weg, vielleicht ist er dort angestellt, wo ich bestellt bin. Vielleicht fährt er noch mehrere Stationen, manche drücken sich an den Türen herum und steigen beim nächsten Halt gar nicht aus. Die Kirschesserin lächelt mich mit dunkelblauem Zahnfleisch an. Sie drückt sich nach hinten zur Tür. Wenn es nötig wird, werde ich mich zur vorderen drücken, sie ist etwas näher von hier. Will die Frau ihre Kirschkerne pflanzen. Mein Opa hat gesagt, daß es auf dem Bärägan wilde Samen gibt, die nur keimen, nachdem Vögel sie gefressen und herausgeschissen haben. Aber Kirschkerne müssen, bevor sie in die Erde kommen, an der Sonne trocknen, nur dann wachsen Bäume. Wenn alle Kerne wachsen, trägt sie in der Tasche einen Kirschgarten nach Hause. Die Leute kippen nach vorne, nach hinten, alle gleichzeitig. Die Tasche mit den Kernen steckt mittendrin. Der Schaffner klingelt und schreit zur Scheibe hinaus: Auf dich wartet der Tod im Schlafzimmer, und du lungerst herum auf den Schienen. Dann schreit er in den Wagen: Jeder Dummkopf steht am Morgen auf und macht sich einen Tag. Redet der Schaffner mit sich oder mit uns allen, was weiß er. Nein, ich zum Beispiel würde liegen bleiben, aber Albu steht auf.
     
     
    Jeden
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