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Heute wär ich mir lieber nicht begegnet

Heute wär ich mir lieber nicht begegnet

Titel: Heute wär ich mir lieber nicht begegnet
Autoren: Herta Müller
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geschickt, und dem vorher in der Bar einige Schnäpse spendiert, damit endlich einer seiner Frau sagt, daß in der Schatulle Rubine sind. Mit dem Sonntagskleid wird sich nichts ändern, es wird mittwochs abends stumm in den Schrank zurückgehängt und hie und da geweint. Mit dem Selbstmord ist aber Ruhe. Der Uhrmacher hat sich ausgezahlt, sagt Herr Micu, ich hätt mir viel erspart, wenn ich beizeiten draufgekommen wäre.
    Kurz nachdem ich in den Turmblock gezogen war, lehnte Frau Micu hinter dem Eingang an der Wand. Sie war auf den Strümpfen, in einem durchgeknöpften Hauskleid. An ihren Wangen glänzte Flaum, ums Kinn ein weißer, abgewetzter Pelz, den Lippen entlang ein schütterer Schnurrbart, unter jedem Nasenloch hinauf gewellt. Frau Micu lutschte am Zeigefinger und fuhr sich mit dem Speichel rund um die Augen, wie Katzen sich waschen. Ich ging zum Lift. Ohne sich von der Stelle zu rühren, rief sie:
    Fräulein.
    Sie zeigte mir eine rote Glasscherbe.
    Hast du schon mal so einen großen Rubin gesehen.
    Noch nie, sagte ich.
    Das wär doch was für die englische Königin, ich glaub, ich schicke ihn, was meinst du.
    Und wenn er auf der Post gestohlen wird.
    Das stimmt, sagte sie, und tat ihn ins Kleid.
    Von Herrn Micus schriftlichen Beobachtungen muß sie etwas mitbekommen haben. Lange bevor ihr Mann mich ins Vertrauen zog, stand sie, als ich nachmittags aus der Stadt kam, mitten im Eingang und trug ein Geschirrtuch als Schal. Sie versperrte mir den Weg mit dem Arm und sagte:
    Zuerst bist du gegangen und dann Paul. Aber gekommen ist nur Paul.
    Jetzt bin ich doch hier, sagte ich.
    Nach ihm, sagte sie, und bei mir ist Radu gekommen mit drei Kilo zehn, und dann Emil mit drei Kilo fünfzehn. Mara hab ich ausgelassen, mein Mann wollte nicht, daß sie kommt. Und dann ist wieder Emil gekommen, zweimal, das geht doch nicht, aber damals waren zerrissene Zwillinge möglich.
    Was ein Geschirrtuch und was ein Schal ist, wußte sie nicht mehr. Aber das Geburtsgewicht ihrer Kinder sagte sie her wie mein Opa die Maße der Lehmziegel im Lager.
    Halb aus Bosheit, weil er mein Kommen und Gehen, und wer weiß was noch alles, aufschreibt, und halb aus Dankbarkeit, weil er es mir anvertraut hatte, kaufte ich ein Rechenheft für Herrn Micu. Er sollte unsicher werden, wenn er seine Beobachtungen in ein Geschenk von mir aufschreiben muß. Ich wollte höflich lähmen, weil Streit nichts brachte. Es war nicht Mittwoch, also klingelte ich, und Herr Micu öffnete mit einem zur Hälfte gegessenen Fettbrot in der Hand. Die Salzkörner glänzten darauf. Er schüttelte den Kopf.
    Viel zu groß.
    Hab ich nicht gewußt.
    Meine sind klein und dicker.
    Schreiben sie halt einmal in ein größeres, sagte ich.
    Es muß in die Jackentasche gehen, sagte er, nein, nein.
    Seither schreibe ich in das Rechenheft, was Albu mir beim Handkuß sagt, oder wieviele Pflastersteine, Zaunlatten, Telegraphenmaste, Fenster von da bis dort sind. Ich schreibe nicht gern, weil man Geschriebenes finden kann, aber es muß sein. Oft ändern die gleichen Sachen am selben Ort von heut auf morgen ihre Zahl. Dem Anschein nach steht alles, wie es war, nicht aber, wenn man zählt. Und nicht, wenn man Fingerleihen spielt – Auge zumachen und mit dem Finger Wolken, die Ränder der Dächer, zittrige Blätter an den Bäumen oder Astgabeln, solang das Holz nackt ist, nachzeichnen. Je höher die Ränder, umso besser geht der Finger. Dem Kirchturm bin ich schon oft von unten steil hinauf in die Spitze geschlüpft und den Haustürmen unter die Wetterhähne. Pauls Antennen, die auch auf den Dächern Geweihe sind, zeichne ich bis in die dünnsten Enden nach, da laß ich nichts aus. Und rühr die anderen Antennen daneben nicht an. Früher habe ich zum Nachzeichnen Steinchen vom Wegrand zur Hilfe genommen. Seit dem Packpapierbonbon benutz ich nur den Zeigefinger, biege ihn an allen Feinheiten entlang. Ich hab nicht probiert, ob man den abgeschnittenen Finger biegen kann.
    Lilli hab ich einmal nachgezeichnet. Sie stand einen Treppenabsatz höher auf dem Gang in der Fabrik, drehte sich ins Profil, und ich zeigte ihr, wie gerade ihre Stirn läuft, die Nase unbeteiligt, Kinn und Hals aus warmem Milchglas. Mein Finger spürte über alle Treppen hinweg den Unterschied von Lillis Haut zu Gegenständen. Ich war am Schulterende angekommen, Lilli legte ihre Hände auf die Brüste:
    Mach mich durchsichtig, sagte sie, du kannst es bestimmt.
    Ich konnte es nicht, zeichnete nur den vorderen Flügel, der
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