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Heute wär ich mir lieber nicht begegnet

Heute wär ich mir lieber nicht begegnet

Titel: Heute wär ich mir lieber nicht begegnet
Autoren: Herta Müller
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Abend, wenn ich vom Depot nach Hause ging, hab ich im Dunkeln hinter der Allee zuerst gar nichts gesehen, dann haben sich die Augen an die Nacht gewöhnt und sahen immer mehr. Ich hab Haustore gezählt. Sie liefen ineinander, auseinander, von da bis dort dieselben Häuser, aber die Haustore wurden immer andere Zahlen. Wenn ich in unsere Straße einbog, hab ich das Dach der Brotfabrik nachgezeichnet, jeden Schornstein und die Wetterhähne mit einem Steinchen in der Hand aus der Nacht genommen, um den Betrug der Haustore zu ändern. Weil man lieber durcheinander als geborgen ist, spielte ich Zählen. Lieber durcheinander, meint man, wenn man sich langweilt. Nach dem Zählen spielte ich dann Fingerleihen, damit nicht alles gegen mich ist, wo ich wohne. Als ich die Langzöpfige im Bus gesehen hatte, zählte ich kein Haustor mehr in dieser Gegend. Dann lief die Zeit auch so. Nur eines Tages, als mein Wegsein von der Kleinstadt schon so lange her war, daß ich die Wetterhähne der Brotfabrik nicht mehr kannte, ging ich hinter der Post in eine Nebenstraße und sagte mir im Kopf:
    Klarinetten auf den Tisch.
    Es fing an zu regnen. Vor mir ging ein Mann und spannte seinen Schirm auf, und ich blieb stehen. Als der Regenschirm am anderen Straßenende klein wie ein Hut geworden war, zeichnete ich ihn nach. Das Fingerleihen fing wieder an. Leg die Klarinetten auf den Tisch, hatte Albu gesagt, weil ich am großen Knopf meiner Bluse gedreht hab. Ich tat die Hände auf den Tisch und vergaß es, er hat es wiederholt. An diesem Tag fand Albu ein Haar auf meiner Schulter. Er fuhr mir mit den Fingern an der Wange hoch, als er es nahm. Ganz nah roch sein Parfüm, am Hals glatt rasierte Poren, seine Wangen hinauf immer kleiner getupft wie geschliffenes Holz. Er hielt das Haar mit zwei Fingern, drei streckte er weg und wollte es auf den Boden fallen lassen. Soll er die angewachsenen Haare auf meinem Kopf besitzen, um den Zeigefinger kringeln und mich hinziehen, wo er will. Aber die ausgefallenen haben dort zu bleiben, wo sie sind. Bestimmt wollte Albu etwas anderes, als er aufstand und die Hemdmanschette über seine Uhr zog. Nicht einmal auf Lillis Schulter hätte er von seinem Tisch ein Haar gesehen. Hat er endlich mal sein Ziel vergessen, wie ich den Namen seines bitteren Parfüms, oder hat er es verworfen. Aber den Duft verwechsle ich nie, Avril oder September, ich drehte wieder an meinen großen Knopf und sagte:
    Legen Sie das Haar zurück, das gehört mir.
    Wie mir vor meiner eigenen Stimme die Stirn erschrak, wie ich mit Bestrafung rechnete, als es gesagt war. Er zog die wegstehenden Finger ein, ich glaub, das Lochmuster an seinen Schuhspitzen sah er an, um zu entscheiden, was er tut. Und ich starrte dem Licht nach, das vom Fenster kam. Drüben lag der zerknabberte Bleistift und Albus Finger auf meiner Schulter. Er legte das Haar wirklich zurück. Dann schrie er:
    Klarinetten auf den Tisch.
    Mit dem Rücken zu mir stand er am Fenster, wiegte den Hinterkopf, im Glänzen lief ein Haar ins andere, ein schönes Fell im Nacken, und er lachte hinaus in den Baum, drehte sich zu mir um und lümmelte mit dem Hintern auf dem Fensterbrett. Er stellte den einen Schuh auf den Absatz, die Schuhspitze senkrecht, er zeigte die saubere Sohle und konnte das Lachen nicht aufhören. Ein Lachanfall, so wie meine. Sein Ohr leuchtete grün, das Laub nahm seinen dünn gebogenen Knorpel in Besitz. Was es da zu lachen gab, durch die grünliche Verfärbung sah man seinen Abgang aus der Welt, nicht meinen. Ein bißchen Wind, und schon hätte sich der Baum diesen Lachanfall geschnappt. Ich an seiner Stelle hätte jetzt nicht gelacht.
     
     
    Nun hält die Straßenbahn neben dem Busbahnhof, alle drücken und ich steh mitten im Wagen. Der mit der Mappe hat dem Schaffner über die Köpfe zugerufen: Gott, soviel blödes Volk. Und der Mann hinter ihm kratzt sich am Kinn und sagt: Paß mal auf, du Seidenraupe, sonst trete ich dir mit dem Absatz auf den Schnurrbart, und dann trägst du deine Zähne im Taschentuch nach Hause. Er hat gar keinen Schnurrbart, der mit der Mappe. Aber der, der es gesagt, der hat einen. Beide sind ausgestiegen. Der mit der Mappe hat sich noch einmal nach dem Raufbold umgedreht, der hebt den Zeigefinger, wie man Kindern droht und lacht roh. Seine Arme sind lang und sehnig, seine Zähne weiß, der meint es ernst. Der findet heute doch noch einen, den er zum Krüppel schlagen kann. Der mit der Mappe ist sich zu schade dafür, denkt sich
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