Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Heute wär ich mir lieber nicht begegnet

Heute wär ich mir lieber nicht begegnet

Titel: Heute wär ich mir lieber nicht begegnet
Autoren: Herta Müller
Vom Netzwerk:
Herz.
    Plötzlich brannte das Streichholz, es war Schwarzkunst, denn die Schachtel hielt Paul in der anderen Hand unterm Tisch. Das Streichholz krümmte sich, die Flamme leckte an seinem Daumen. Paul blies, sah in den Rauchfaden.
    Und das Herz ist stehngeblieben,
    Und es gehn die Ameisen.
    Paul war nicht besoffen, nur angeschickert. Er hatte einen am Ohr hängen, einen Rausch mehr außen als innen. Wenn Ameisen durchs Herz gehen, gibts für mich nichts zu lachen, aber Paul lachte los, machte auch mir eine kitzlige Zunge. Sein Rausch steckte mich an, der Schnaps hatte damals noch keine Spur Dunkelheit, ich vor Pauls Trinken noch keine Angst. Das erste halbe Jahr trank Paul nicht so viel, der Grashalm blieb abends zur Hälfte im Nassen stehen. Und die ersten Wochen ging er, wenn er von der Arbeit kam, auf den Balkon. Die Funken beim Schweißen und wie schnell sie verloschen. Wo ist das Feuer hingegangen, ich sah immer das Streichholz und die Ameisen im Herz. Manchmal pfiff Paul sich ein Lied, da war mehr Eisenfeilen als Musik drin, es klang so falsch. Jede Woche wurde das ganze Geweih einer Antenne fertig, und es waren fast genug für einen Sonntag auf dem Flohmarkt und einen Haufen Geld. Zum Verkaufen kam Paul nicht mehr. Es klopften zwei junge Männer an der Tür.
    Schwarzarbeit und Unterwanderung des Staats durch ausländische Kanäle, sagten sie.
    Ohne zu fragen, packten sie die Werkzeuge und Eisenrohre in mitgebrachte Säcke und fuhren sie mit dem Lift hinunter zu einem Kleinlaster, man sah ihn vom Küchenfenster. Die fertigen Antennen stellten sie ins Treppenhaus. Paul sagte:
    Wenn ihr alles habt, schließt hinter euch die Tür.
    Er nahm die Schnapsflasche in die Küche und schloß sich ein. Ich lehnte an der Wand im Treppenhaus, um nicht im Weg zu stehn und sah den beiden zu. Sie trugen die Antennen zu Fuß, in jeder Hand eine, alle Treppen hinunter. Eilig klappernde Schritte und das Echo dazu, scheues Wild mit gestohlenen Geweihen. Sie ließen einander nicht allein, kamen und gingen drei Mal zusammen. Das letzte Mal blies der eine müd die Backen auf, ich sah sein Hemd am Rücken kleben, und er sagte:
    Wir müssen.
    Mach, sagte ich, nur erklär mir nicht das Gegenteil.
    Ich ließ sie ziehen mit allen Geweihen, dann waren sie weg, und ich mußte mit der Faust an die Küchentür klopfen, bis Paul öffnete. Der Schnaps war alle, und Paul ging mit mehr Füßen, als er hatte, durchs Zimmer auf den Balkon und rief:
    Diese Spionin, dort sitzt sie und schaut zu.
    Im Wohnblock drüben, zwei Stockwerke weiter unten, saß eine Frau auf dem Balkon und nähte.
    Laß sie doch nähen, die sieht doch nicht herauf.
    Die soll nähen, wo sie will, aber nicht auf dem Balkon.
    Es ist doch ihr Balkon, sie hat doch nichts mit dir.
    Das werden wir gleich sehen, sagte Paul.
    Er torkelte ins Zimmer und brachte einen Stuhl. Er stellte sich drauf wie ein plumpes Kind. Und während ich mich fragte, warum, und ihn hielt, daß er nicht stürzt, ließ er die Hose herunter und begann vom Balkon auf die Straße zu pissen. Die Frau nahm ihr Nähzeug zusammen und ging ins Zimmer.
    In der Motorenfabrik gab es eine Sitzung wegen Pauls gestohlenen Eisenstangen, er wurde entlassen. Die Kumpane aus seiner Halle saßen stumm, wie Scheißhaufen im Gestrüpp, sagte Paul, in den hinteren Reihen. Alle stahlen schon damals und tun es bis heute, machen zu Hause Gießkannen, Kaffeemühlen, Tauchsieder, Bügeleisen, Ondulierscheren, Lockenwickler und verkaufen sie gut. Jeder zweite ist ein Nelu, man muß keine Zettel schreiben, es geht auch so.
    Paul wird nicht bestellt, aber auch nicht verschont. Ich bin in seine Tage eingebrochen, als ich zu ihm zog. In meinem Hauch wäre jedes noch so stille Leben aufgestöbert worden, man hätte keinen, der zu mir gehört, übersehen. Paul wird mitbestraft. Mir tritt man, auch an den Tagen, wenn ich nicht bestellt bin, aufs Herz, weil man Paul hinterher ist. Den Unfall hatte er, nicht ich. Ob man ihn riskiert, um es mir zu zeigen oder seinetwegen, weil er es so verdient, kann den gleichen Ausgang haben. Wird aber nie dasselbe. Vor dem Unfall hatte Paul es mit dem Warten schwerer als ich. Wenn er auf seinen Sauftouren in der Stadt war, hab ich gewartet, bis er kommt. Er jedoch, wenn ich bestellt war, daß ich komme. Seit dem Unfall warte ich wie er. Wenn ich nach vorne und zurück an all die Leute mit den Kämmen denke, bin ich mir nur bei zwei Personen sicher, daß ich ihnen traue. Bei Lilli ist es hinfällig, bleibt nur
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher