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Heute wär ich mir lieber nicht begegnet

Heute wär ich mir lieber nicht begegnet

Titel: Heute wär ich mir lieber nicht begegnet
Autoren: Herta Müller
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müde. Der Turmblock war schon vor zwölf Jahren so, von Anfang an, sagt Paul. Wenn ich jemandem erklären will, wo ich wohne, muß ich nur in dem verrutschten Turmblock sagen. Jeder in der Stadt weiß, wo das ist, und fragt:
    Fürchtest du nicht, daß er einstürzt.
    Ich habe keine Angst, es ist Betoneisen drin. Weil die Leute bei Anspielungen gleich zu Boden schauen, als mache mein Gesicht sie schwindlig, sage ich:
    Eher stürzt alles andere um, in dieser Stadt.
    Dann nicken sie, um das Zucken ihrer Halsadern zu fangen.
    Daß unsere Wohnung hoch oben liegt, ist für uns ein Vorteil, hat aber den Nachteil, daß auch Paul und ich von hier aus nicht genau sehen, was unten geschieht. Aus dem siebenten Stock kann man Gegenstände, die kleiner als Koffer sind, nicht deutlich erkennen, und wann trägt jemand schon einen Koffer. Die Kleider verschwimmen, ihre Farben sind große Flecken, Gesichter zwischen Haar und Kleidern kleine Flecken. Man könnte rätseln, wie Nase, Augen oder die Zähne in den kleinen Flecken aussehen, aber wozu. Alte Leute und Kinder erkennt man am Gang. Zwischen dem Turmblock und der Ladenstraße stehen die Mülltonnen im Gras, und neben ihnen läuft der Gehsteig. Und aus dem Gehsteig zwei dünne Wege, die sich knapp verfehlen, um die Mülltonnen herum. Von hier oben sind die Mülltonnen durchwühlte Schränke ohne Türen. Einmal im Monat werden sie angezündet, der Rauch steigt hoch, der Müll frißt sich. Wenn die Fenster nicht geschlossen sind, kriegt man Augenbrennen und einen kratzigen Hals. Auf der Ladenstraße passiert das meiste, leider sehen wir nur ihre Hintertüren. So oft wir auch abzählen, es gelingt uns nie, siebenundzwanzig Hintertüren auf die acht Vordertüren von Alimentara, Brotladen, Gemüseladen, Apotheke, Bar, Schusterei, Frisör und Kindergarten zu verteilen. Eine Hinterwand voll mit Türen, trotzdem halten viele Lieferwagen vorne in der Straße.
    Der alte Schuster klagte über Platzmangel und Ratten. Seine Werkstatt ist um den Arbeitstisch herum mit Brettern zugenagelt.
    Mein Vorgänger richtete die Werkstatt ein, das war damals ein Neubau, sagte der Schuster, die Bretterwände waren da. Meinem Vorgänger ist nichts eingefallen, oder es war ihm zuviel, er hat die Bretter nicht genutzt. Ich habe Nägel hineingeschlagen, seit die Schuhe an den Schnürsenkeln, Riemen oder Stöckeln hängen, wird nichts mehr angefressen. Das geht doch nicht, die Ratten fressen und ich muß zahlen. Besonders im Winter, da wächst der Hunger. Hinter den Brettern wird der Raum so groß wie ein Saal. Ganz zu Anfang, an einem Feiertag, bin ich einmal in die Werkstatt gekommen, hab unten, hinterm Tisch zwei Bretter gelockert und bin mit der Taschenlampe durchgeschlüpft. Man kann nirgends hintreten, der ganze Boden rennt und quiekt, sagte er, alles voll mit Rattennestern. Die brauchen keine Tür, nur Gänge in der Erde. Da sind an den Wänden unsinnig viele Steckdosen, und an der Hinterwand vier Türen, zu den Mülltonnen. Nicht einmal einen Spalt breit kann man sie öffnen und die Ratten wenigstens für ein paar Stunden hinaustreiben. Die Türen an der Werkstatt sind nur Blechstücke, an der Hinterwand der Ladenstraße sind mehr als die Hälfte der Türen eingemauerte Blechstücke. Man wollte Beton sparen, und die Steckdosen sind wahrscheinlich für den Kriegsfall. Krieg wird es immer geben, lachte er, aber doch nicht hier bei uns. Die Russen haben uns über Verträge in der Hand, die kommen nicht. Sie lassen sich, was sie brauchen, nach Moskau liefern und fressen unser Getreide und unser Fleisch. Das Hungern und Prügeln überlassen sie uns. Wer soll uns schon erobern, das kostet nur. Jeder Staat ist froh, daß er uns nicht hat, sogar die Russen.
     
     
    Der Schaffner kommt, er ißt einen Kipfel, er hat es nicht eilig. Sein Hemd ist wieder aus der Hose gerutscht, als wär er die ganze Zeit gefahren. Mit dem Kipfel in der Hand und einer dicken Backe streicht er sich durchs Haar, ein schieferes Gesicht, als es beim Kauen nötig wäre. Hier auf der Treppe macht er sich fein, doch nicht für uns. Für uns macht er ein griesiges Gesicht, damit im Wagen ja niemand sich erlaubt, etwas zu sagen. Er steigt ein, in der anderen Hand einen zweiten Kipfel, ein dritter schaut aus seiner Hemdtasche heraus. Die Straßenbahn fährt langsam an. Der Vater mit dem Kind hat seine Beine jetzt doch aus dem Gang zwischen die Sitze gezogen. Das Kind leckt die Scheibe ab, er hält ihm den Nacken mit der Hand, damit die
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