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0406 - Liebesbriefe in Sing-Sing

0406 - Liebesbriefe in Sing-Sing

Titel: 0406 - Liebesbriefe in Sing-Sing
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Die Nacht lag über Manhattan wie eine glühende Decke aus schwarzem klebrigem Gummi. Unbewegt und drückend.
    Es war eine von diesen heißen Sommernächten, in denen sich die Menschen schlaflos in den Betten wälzen, friedliche Bürger plötzlich verrückt spielen und kaltblütige Verbrecher Wahnsinnstaten begehen.
    Es war die Nacht der Mörder!
    Auf einen von ihnen wartete ich.
    Meine Handflächen brannten. Der beißende Geruch von weichem Teer drang mir in die Nase und trocknete meine Kehle aus. Meine Augen tränten. Ich lag schon zwei Stunden unbeweglich auf dem flachen Dach des Hauses 711 in der Penton Street. Unter mir war das schmale Fenster, hinter dem der Mann schlief, der in dieser Nacht sterben sollte.
    Ich wartete auf seinen Mörder.
    Die Luft war völlig bewegungslos. Nicht einmal vom Hudson River kam ein leiser Lufthauch. Nur die Hitze wurde erbarmungslos von den dicken Betonwänden reflektiert.
    Die Teerschicht auf dem Dach war weich und klebrig. Ich konnte mich nicht bewegen, ohne ein Geräusch zu verursachen, das mich verraten hätte. Dem Mörder verraten hätte.
    Ich kannte ihn nicht, wusste nicht, wie er aussah, wie er hieß, wann er kam.
    Ich wusste nur, dass er entschlossen war zu morden. Um jeden Preis!
    Plötzlich vernahm ich ein Geräusch.
    Es war neu. Es hatte nichts mit dem gedämpften Straßenlärm zu tun, der aus hundert Yards Tiefe zu mir heraufdrang. Es hatte auch nichts mit den Menschen zu tun, die in dem Haus lebten, auf dessen Dach ich lag.
    Ich hörte ein leichtes Schaben - und den Atem eines anderen Menschen.
    Unmerklich schob ich meinen Kopf vor.
    Unten mir fiel die Fassade des Hochhauses steil ab. Glatt wie eine Stahlplatte.
    Der Fremde war knapp unter mir.
    Er trug einen eng anliegenden Overall und schwarze Handschuhe. Zentimeter für Zentimeter schob er sich näher an das Fenster heran, hinter dem sein Opfer schlief.
    Ich hatte auf ihn gewartet, aber nicht damit gerechnet, dass er auf diesem Weg kommen und mit diesem »Werkzeug« arbeiten würde. Denn das konnte nur bedeuten, dass er bereit war, mit seinem Opfer zu sterben.
    Ich fror plötzlich trotz der glühenden Hitze.
    Der Mann unter mir trug seine Mordwaffe zwischen den Zähnen. Es war kein Messer, auch kein Revolver -es war eine Handgranate.
    Sehr vorsichtig griff er mit seiner rechten Hand nach dem ovalen matt glänzenden Gegenstand und sah ihn an. Er war jetzt direkt neben dem Fenster.
    In Sekundenbruchteilen wog ich die Chance ab, die mir blieb. Mir und den anderen Menschen, die in den oberen Stockwerken wohnten. Ich musste verhindern, dass er den Zünder riss.
    Ich wartete, dass er sich umdrehte, nahm an, dass er vielleicht auch versuchen würde, in den paar Sekunden, die ihm blieben, so weit wie möglich von dem Fenster fortzukommen.
    Der Mann zögerte noch immer. Er sah auf die Handgranate in seiner Hand und dann wieder auf das Fenster. Ich konnte sein Gesicht nicht sehen, aber ich hatte das Gefühl, als würde er die letzten Sekunden auskosten.
    Plötzlich straffte er sich. Er hob die rechte Hand an den Mund, um den Zündstift mit den Zähnen abzureißen.
    »Halt!«, brüllte ich.
    Der Mann zuckte zusammen und sah hoch. Seine Augen schimmerten weiß und ausdruckslos.
    »Tun Sie es nicht!«, warnte ich jetzt leiser.
    Er antwortete nicht, aber seine Hand mit der Granate blieb unbeweglich.
    »Stecken Sie das Ding weg, es hat keinen Zweck«, sagte ich wieder.
    Seine Hand hob sich etwas. Der Mann sagte: »So? Wollt ihr mich daran hindern? Wie denn, wenn ich fragen darf?«
    »Hören Sie zu«, sagte ich und schob mich etwas weiter nach vorne, sodass mein Oberkörper mehr Bewegungsfreiheit hatte. »Wenn Sie das Ding da reinwerfen, dann trifft es nicht nur einen, sondern eine ganze Menge Menschen, die Ihnen nichts getan haben.«
    Der Mann sah mich kurz an. »Ich werde ihn in die Luft jagen, und wenn ein Polyp dabei mitfliegt, umso besser!«
    »Sie kommen nicht rechtzeitig weg!«, warnte ich ihn.
    »Na und? Denken Sie, das hält mich davon ab? Wenn ich’s nicht schaffe, dann eben nicht. Dass es ihn erwischt, ist viel wichtiger.«
    »Warten Sie!«, rief ich. Der Lauf meiner Pistole schob sich unter meinem linken Ellenbogen nach vorn.
    Der Mann antwortete mir nicht mehr. Seine Lippen öffneten sich, um den Zündstift der Handgranate loszureißen.
    Ich sah den erhobenen Arm und schoss.
    Der Mann taumelte, verharrte einen Sekundenbruchteil frei schwebend vor dem Fenster und stürzte dann hinunter. Seine rechte Hand hatte die
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