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Heute wär ich mir lieber nicht begegnet

Heute wär ich mir lieber nicht begegnet

Titel: Heute wär ich mir lieber nicht begegnet
Autoren: Herta Müller
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kleine, hellrote Zunge gut drankommt, statt sie von der Scheibe wegzuziehen. Das Kind dreht den Kopf, schaut und packt ihn am Ohr und plappert. Er wischt ihm das nasse Kinn nicht ab. Vielleicht hört er zu. Aber mit den Gedanken ganz woanders sieht er durch den Speichel an der Scheibe hinaus, als hätten Glasscheiben es so an sich, zu tropfen. An seinem Hinterkopf dichtes Kurzhaar, ein Fell. Darin die kahle Stelle einer Narbe.
     
     
    Als der Sommer kam und die ersten Leute kurzärmelig herumliefen, haben Paul und ich eine ganze Woche einen Mann verdächtigt, der bis heute täglich zehn vor acht mit leeren Händen von der Ladenstraße kommt, vom Gehsteig um die Mülltonnen herumgeht, dann wieder auf den Gehsteig und zurück in die Ladenstraße. Da wurde es Paul zu dumm, er stopfte Papier in eine Plastiktüte, nahm sie in die Hand und ging dem Mann nach. Erst mittags um eins kam er zurück mit einem langen, weißen Brot, das man gut unterm Arm tragen kann. Damit ist er am nächsten Morgen um Viertel nach sieben auf die Straße und war zehn vor acht, als der Mann um die Mülltonnen gegangen war, mit dem geknickten Brot wieder zu Hause. Der Mann ist um die Vierzig, trägt eine Goldkette mit einem Kreuz, und hat auf einem Innenarm einen Anker und auf dem anderen den Namen Ana tätowiert. Er wohnt in einem hellgrünen Reihenhaus in der Maulbeerstraße und liefert jeden Morgen, bevor er um die Mülltonnen geht, im Kindergarten einen weinenden Jungen ab. An unserem Wohnblock hätte er nichts zu suchen, wenn er vom Kindergarten nach Hause will, außer Abwechslung. Obwohl ein tagtäglicher Umweg keine ist. Paul sagt:
    Der kommt zu den Mülltonnen wegen der Nähe der Bar, an der er sich kurz davor schweren Herzens vorbeigerungen hat. Der Schnapsgeruch der gärenden Abfälle erleichtert sein schlechtes Gewissen, er kann umkehren und in der Bar den ersten Schnaps bestellen. Alle anderen Gläser ergeben sich von selbst. Gegen neun setzt sich einer zu ihm, der nur zwei Tassen Kaffee trinkt, aber bis fünf vor zwölf, wenn das Kind abgeholt werden muß, an seinem Tisch sitzen bleibt. Das Kind weint auch mittags, wenn es ihn warten sieht.
    Für mich stinken die Mülltonnen nicht nach Schnaps, für Trinker mag es anders sein. Doch warum hebt er heute noch den Kopf und schaut hinauf, wenn er da unten geht. Und was ist mit dem Fünfzigjährigen im kurzärmligen braunen Sommeranzug, der ihm Gesellschaft leistet. Ich glaube, Paul redet von sich selber, wenn er meint, daß jemand den Hals zum Himmel streckt, um sich auf dem Heimweg gegen seine Schuldgefühle für den Suff zu entscheiden. Und warum weint dieses Kind, wenn es ihn sieht, vielleicht ist es fremd. Paul ist ahnungslos, wenn er sagt:
    Wer leiht sich schon ein Kind.
    Er geht nie einkaufen, sonst wüßte er, daß Leute sich Kinder leihen, damit sie im Laden mehrere Portionen Fleisch, Milch und Brot bekommen.
    Warum sagt Paul, jeden Morgen und jeden Mittag gehe der Trinker da- und dorthin, er ist ihm nur an einem Morgen und an einem Mittag nachgeschlichen. Alles kann Zufall sein, nicht Gewohnheit. Albu ist geschult in diesen Sachen. In kurz oder lang gestreuten Abständen, damit es mich verwirrt, fragt er mindestens dreimal dasselbe, bevor er mit der Antwort zufrieden ist. Erst dann sagt er:
    Siehst du, jetzt verbinden die Dinge sich.
    Paul meint, ich solle dem Trinker doch selber nachspüren, wenn ich mit dem, was er herausgefunden hat, nicht zufrieden bin. Lieber nicht, mit einer Tüte in der Hand oder Brot unterm Arm wird man nicht unsichtbar, man kann sich verraten.
    Ich stelle mich zehn vor acht auch nicht mehr ans Fenster, obgleich mir jeden Morgen einfällt, daß der Trinker da unten geht und einen langen Hals kriegt. Ich sage auch nichts mehr, weil Paul so rechthaberisch wird, als bräuchte er den Trinker zum Leben, nicht mich. Als würde unser Leben leichter, wenn der Mann zwischen seinem Kind und seinem Suff nichts als ein gequälter Vater ist.
    Kann alles stimmen, sage ich, nur nebenbei spioniert er noch.

 
    Der Schaffner hat von seinem zweiten Kipfel die Salzkörner abgekratzt. Die dicken Salzkörner zwicken an der Zunge und zerkratzen auch den Zahnschmelz. Und Salz macht Durst, vielleicht will er nicht ständig Wasser trinken, weil er auf der Route nicht aufs Klo gehen kann, und weil man stärker schwitzt, wenn man viel trinkt. Mein Opa hat erzählt, daß sich die Leute im Lager mit dem Salz von verdunstetem Wasser die Zähne geputzt haben. Sie haben es in den Mund
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