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Haveljagd (German Edition)

Haveljagd (German Edition)

Titel: Haveljagd (German Edition)
Autoren: Jean Wiersch
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    Werner Michaelis hielt den Fahrradlenker krampfhaft umklammert, als müsste er ihn gegen eine Jugendgang verteidigen. Dabei wollte er nur verhindern, dass sein Vorderrad, durch die vielen Rillen im Pflaster der Steinstraße irregeführt, so mir nichts dir nichts in die Straßenbahnschienen rutschte, was mit ziemlicher Sicherheit zum Sturz geführt hätte.
    Nur nicht nach links oder rechts in die Auslagen der Geschäfte sehen, forderte er mit strenger Stimme von sich selbst, sondern immer schön geradeaus, besser noch, nur einen Meter weit. Jedenfalls wollte er das tun, solange der Streifenwagen hinter ihm herschlich. Bestimmt warteten die bloß darauf, dass er die Nerven verlor und auf den Gehweg abbog, was ihn sofort zehn Euro gekostet hätte. Dein Freund und Helfer.
    Aber kurz vor dem Steintorturm, er hatte die holprige Straße fast hinter sich, setzte sich der Streifenwagen plötzlich neben ihn, und der Beifahrer ließ sein Fenster herunter.
    »Warum fahren Sie denn nicht auf dem Gehweg? Ist viel sicherer als auf der Holperpiste hier, und sonntags früh um sieben ist doch sowieso niemand da, den Sie stören könnten.« Dann winkte der Polizist freundlich, und sein Kollege gab Gas.
    Na prima, dachte Michaelis. Hätte euch das nicht schon in Höhe des Kinos einfallen können? Da hätte es sich wenigstens noch gelohnt, jetzt aber musste er sowieso abbiegen.
    Menschenleere Straßen. Er fuhr zum Theaterpark, dort über die kleine Brücke, die durch die Initiative einiger Mitglieder der Brandenburger Symphoniker in neuem Glanz erschien. Endlich hielt er vor dem Haus in der Grabenstraße, in dem er seit über zehn Jahren sein Zuhause hatte.
    In der Glasfläche der Eingangstür betrachtete er sein Spiegelbild, das heute Morgen so ganz anders aussah, als noch gestern Abend. Eine kleine Veränderung nur, aber mit großer Wirkung. Rechts neben der Nasenwurzel leuchtete ein tiefviolettes Veilchen, mit dessen Betrachtung er sich nicht weiter aufhalten wollte.
    Im Hausflur lehnte er das Fahrrad gegen die Wand. Dann nahm er hinter sich Schritte wahr, und als er sich umdrehte, sah er auf den letzten Stufen der Treppe die alte Frau Meier aus dem dritten Stock. Eine ehemalige Schaffnerin, längst pensioniert, aber immer noch mit jener Freundlichkeit ausgestattet, von der sie durch ihr Berufsleben getragen worden war.
    »Das ist aber hier kein Fahrradschuppen«, quakte sie, raffte den Morgenmantel vor der Brust zusammen und zog mit der anderen Hand das Brandenburger Wochenblatt aus dem Briefkasten. »Je oller, je doller«, setzte sie noch mit einem Blick auf sein lädiertes Auge hinzu, bevor sie wieder im Treppenhaus verschwand.
    »Ich wünsche Ihnen auch einen guten Morgen, Frau Meier«, rief er ihr nach. Und nun? Eigentlich war er hundemüde, aber der Alten war alles zuzutrauen, auch, dass sie sich in zehn Minuten an seinen Ventilen vergriff. Also schob er das Rad auf den Hof und stellte es in den Fahrradständer.
    Plötzlich stieg ihm der Geruch abgebrannter Holzkohle und alten Fettes in die Nase, und ein Blick hinter den Mauervorsprung offenbarte, woher der kam. Dort stand Olivers Grill. Sein Nachbar in der kleinen Pension im vierten Stock war der einzige, der hier regelmäßig zu Barbecue-Abenden einlud. Michaelis hielt seine Hand über die Asche und konnte deutlich die Restwärme spüren. Also lag Oli, der Vollzeitmusiker, noch nicht lange im Bett und würde frühestens am späten Nachmittag, vielleicht aber auch erst am Abend aus seinem Zimmer geschlichen kommen. Und da die alte Julemann auf Mallorca weilte, würde er also mit Lotte ganz allein beim Frühstück sein.
    Oben in der Pension bog er gleich in die Küche ab, wo Lotte am Herd stand. Vor ihr brutzelten Zwiebeln und Schinkenspeck in einer Pfanne und erfüllten den Raum mit einem so herrlichen Duft, dass ihm das Wasser im Mund zusammenlief. Sie drehte sich um und musterte ihn vom Herd aus, als wäre er ein Fremder.
    »So sah mein Felix auch immer aus, wenn er morgens von seiner Stromerei nach Hause kam.«
    »Guten Morgen, Lotte«, sagte er und warf die Jacke auf den nächsten Stuhl. »Wer ist Felix?«
    »Guten Morgen, Herr Michaelis. Felix? Das war mein Kater und der konnte im hohen Alter auch nicht mehr akzeptieren, dass die Jungen kräftiger sind.«
    Michaelis setzte sich an den großen Küchentisch und befühlte sein rechtes Auge. »Was soll das heißen?«, fragte er provokant.
    »Dass Sie sich etwas mehr in Acht nehmen sollten, wenn Sie den jungen Röcken
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