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Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)

Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)

Titel: Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)
Autoren: Semiya Simsek , Peter Schwarz
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war. Deutschland muss ihm grau vorgekommen sein – das Grün zwischen Asphalt und Betonwänden eingesperrt, ein Land aus rechten Winkeln, in dem es nach Maschinen und Motoren riecht. So muss er es empfunden haben, als er aus Isparta hier ankam – aus einer Landschaft voller Farben und Düfte. Isparta ist eine Provinz im westlichen Taurusgebirge, etwa hundertfünfzig Kilometer nördlich von Antalya. Kaum fünfzig Menschen leben dort auf einem Quadratkilometer, und das ist der Durchschnitt, manche Landstriche sind weit dünner besiedelt. Hier in Isparta, in einem Dorf mit dem Namen Salur, war mein Vater aufgewachsen.
    In der Ebene von Salur erstrecken sich Sonnenblumenfelder und Wäldchen, dahinter bauen sich die Berge auf, weite, felsige Karstlandschaften breiten sich bis zum Horizont aus, und in die Hänge haben sich tiefe Einschnitte gekerbt und Grotten eingegraben. Grün zieht sich die Bergflanken empor, bis es sich zu den Gipfeln hin im Graubraun verliert. In der Mittagshitze glühen die Felsenbänder orange, die Dachziegel leuchten zinnobersatt, die aus Lehm und Stroh gebauten Häuser schimmern in mattem Gelb, Gerstenfelder wiegen sich golden. Im Juli und August leuchtet der Himmel Tag für Tag in einem tiefen Blau, in dem allenfalls ein paar verirrte Wolkenschlieren zu sehen sind. Es ist ein Landstrich voller wunderbarer Gerüche, Königskerzen und Tragant blühen dort, Weißdorn und Jasmin, Föhren und Olivenbäume, Myrten und Pistazienbäume verströmen ihren Duft. Überall wuchern Dornpolsterheiden und Himbeergestrüpp, Lorbeer und Flockenblumen, deren stachelige Blätter sie gegen die gefräßigen Schafe schützen. Und nicht zuletzt die Rosen: Gut hundert Kilometer von Salur entfernt liegt die Provinzmetropole Isparta, die Stadt der Rosen. Seit jeher bauen die Menschen hier Duftrosen an, aus denen sie ätherisches Öl gewinnen. Isparta liegt in Rosen gebettet, umgeben von Feldern, auf denen die Blüten in sämtlichen Farben leuchten.
    Als Kind hat mein Vater auf dem kleinen Bauernhof seiner Eltern gelebt. Man stand damals früh am Morgen auf, kümmerte sich um die Tiere, verrichtete sein Tagwerk und ging abends zeitig zu Bett. In den Sommermonaten ist er als junger Bursche mit den Schafen in die Berge gezogen. Schafe waren hier alles, der Reichtum der Gegend: Mein Großvater war Schäfer, mein Onkel, der nie dort wegging, ist es heute noch. Seit Jahrhunderten ziehen die Hirten des Dorfes im Mai in die Berge und kommen erst im Spätsommer zurück. Wenn sie aufbrechen, werden sie vom ganzen Dorf verabschiedet, und es ist immer ein aufregender, großer Tag, wenn sie mit ihren Herden und Hunden losziehen. Ihre Familien begleiten sie noch ein Stück, bevor sie allein weiterwandern. Jedes Dorf hat in den Bergen sein eigenes Weidegebiet, wo die Hirten den Sommer über ihre Zelte aufschlagen. Sie tragen weiße Kittel, haben zum Schutz gegen wilde Tiere ein Gewehr dabei und immer Feldflaschen mit etwas zu trinken, es kann sehr heiß und trocken sein, Wasser ist da lebenswichtig. Am Ende des Sommers, bevor sie wieder gemeinsam ins Tal hinunterziehen, entzünden sie in ihrer letzten Nacht oben in den Bergen ein großes Feuer und nehmen eine letzte Mahlzeit ein. Das Feuer ist vom Dorf aus zu sehen, und alle wissen: Morgen werden unsere Söhne, Brüder und Ehemänner wieder bei uns sein.
    Jeden Frühling mit den Schafherden hinaufzuziehen zu den Weidegründen hoch in den Bergen, jeden Spätsommer zurückzukommen ins Dorf, das war die Lebensordnung meines Vaters in seiner Jugend, ein Rhythmus von Fortgehen und Heimkehren. Manchmal hat er mir von den Nächten erzählt, die er oben in den Bergen verbracht hat: von eisig kalten Nächten nach heißen Tagen, in denen das Feuer knisterte und manchmal leise Pfiffe ausstieß, wenn der Wind in die Flammen griff und ein Funkengestöber hinauf in den Sternenhimmel tanzen ließ. Von Nächten, in denen die älteren Hirten Geschichten erzählten, schöne und unheimliche, in denen unbekannte, dunkle Tiere im Gestrüpp raschelten und die Hunde anschlugen.
    Salur, die Berge, das Land Isparta: All das muss meinem Vater in Deutschland sehr gefehlt haben, und in seiner Erinnerung ist ihm diese Welt, die er hinter sich gelassen hatte, vermutlich noch schöner, noch leuchtender erschienen, und manchmal, in Momenten der Müdigkeit, wird er sich nach den Farben, Klängen, Düften seiner Heimat gesehnt haben.

    Wie mag er sich gefühlt haben, als er im Oktober 1985, mit vierundzwanzig Jahren,
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