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Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)

Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)

Titel: Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)
Autoren: Semiya Simsek , Peter Schwarz
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    Prolog
    Meine schlimmste Nacht
    An einem Sonntag gegen vier Uhr morgens rüttelte mich jemand aus dem Schlaf. Ich war seit anderthalb Wochen zurück im Internat in Aschaffenburg, die ersten Schultage lagen hinter mir, den Kopf hatte ich noch voller Erinnerungen an die Ferien mit meiner Familie. Es war der 10. September des Jahres 2000. Das Datum hat sich mir eingebrannt. Ich war vierzehn Jahre alt.
    Semiya, du musst aufstehen, sagte eine Betreuerin. Aufstehen, mitten in der Nacht? Ich war so verwirrt und verschlafen, dass ich nicht weiter nachfragte. Pack deine Sachen zusammen, hieß es, nimm etwas zum Anziehen und Waschzeug mit und vergiss deinen Pass nicht.
    Was bedeutete das? Warum musste ich jetzt los und wohin? Wozu brauchte ich den Pass? Die Leute vom Internat erklärten mir nicht viel, nur, dass ich gleich abgeholt würde. Schlaftrunken stopfte ich ein paar Kleidungsstücke in meine Tasche und tappte hinaus. Vor dem Haus warteten ein Cousin meines Vaters und ein guter Bekannter unserer Familie. Sie sagten: Dein Vater ist krank, wir fahren jetzt schnell nach Nürnberg, er liegt dort im Krankenhaus, deine Mutter hat uns geschickt.
    Krank? Ich war durcheinander, besorgt und desorientiert, ich spürte eine drückende Angst im Bauch. Auf der Fahrt wurde kaum etwas geredet. Und ich traute mich auch nicht, nachzufragen. Kurz vor Nürnberg erzählten sie mir, dass mein Vater nicht krank, sondern verletzt sei. Und dann waren wir in der Klinik, um sieben Uhr morgens. Kerim wird bald da sein, sagte einer der beiden. Mein Bruder war also schon unterwegs aus seinem Internat in Völklingen. Meine Mutter sollte auch bald kommen.
    Wir warteten auf dem Flur, ich weiß nicht genau, wie lange, mir ging das Zeitgefühl verloren, es kam mir endlos vor. Männer und Frauen in weißen Kitteln liefen an uns vorbei, eilten hin und her, verschwanden hinter Türen, aber niemand sprach mit uns. Ich war todmüde und furchtbar beunruhigt zugleich, konnte kaum einen klaren Gedanken fassen, alle möglichen Fragen kreisten mir im Kopf herum, ich betete: Bitte, bitte, mach, dass es nichts Schlimmes ist. Bitte, bitte.
    Irgendwann stand eine Schwester vor mir und nahm mich mit zur Intensivstation. Dort wartete ein Polizist auf mich: Bist du Semiya Simsek? Ist Enver Simsek dein Vater? Ob mein Vater für gewöhnlich eine Waffe bei sich trage, wollte der Mann wissen. Ob er zu Hause Waffen aufbewahre. Ob wir Feinde hätten. Ich verstand überhaupt nichts, ich wollte bloß zu meinem Vater, wünschte, dass meine Mutter endlich hier wäre, und wusste kaum etwas zu antworten. Waffen? Mein Vater besaß eine Gaspistole und hatte in der Regel ein Taschenmesser dabei, zum Blumenschneiden, auch eine Gartenschere lag im Wagen. Aber Feinde? Was für Feinde denn?
    Es war mittlerweile neun Uhr, die ersten Verwandten waren eingetroffen, und wir warteten auf dem Gang vor der Intensivstation. Nur meine Mutter war immer noch nicht da. Dann kam die Schwester wieder zu mir, und endlich durfte ich zu meinem Vater. In seinem Krankenzimmer war ich bei ihm und mit ihm alleine. Auf den ersten Blick sah er fast aus wie immer, beinahe, als würde er schlafen. Nur, dass alles voller Kabel und Schläuche war. Ich wagte zunächst kaum, näher hinzugehen, eingeschüchtert von diesem fremden Raum mit all den Monitoren und Apparaten. Mein Vater lag auf dem Rücken und bewegte sich nicht. Dann sah ich Schwellungen an seinem Kopf. Ein Gerät piepste. All die Schläuche, Kabel und Geräte waren mit ihm verbunden, mit seinem Körper.
    Ich ging um ihn herum, auf die andere Seite des Bettes, und der Anblick raubte mir die Fassung: Ich sah sein Auge, und mir wurde klar, er würde mit diesem Auge nie wieder sehen können. Das Kopfkissen war voller Blut. Noch immer hatte ich nicht die geringste Ahnung, was passiert war, aber ich wusste: Es ist etwas richtig Schlimmes geschehen. Etwas Furchtbares.
    Alles begann sich um mich zu drehen, der Raum, die Schläuche, das Bett, mein Vater, das blutige Kissen. Mir wurde schlecht, ich glaube, ich habe angefangen zu weinen und zu schreien. Irgendjemand hat mich dann aus dem Zimmer geholt.
    Auf dem Gang kam ich wieder zu mir. Immer mehr Verwandte trafen im Lauf des Vormittags im Nürnberger Krankenhaus ein. Erst am Mittag, gegen dreizehn Uhr, kam mein Bruder, und endlich, irgendwann am Nachmittag, waren meine Mutter und ihre Brüder da, meine Onkel Hüseyin und Hursit. Mutter begann zu weinen, als sie uns sah, sie war
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