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Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)

Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)

Titel: Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)
Autoren: Semiya Simsek , Peter Schwarz
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– zum Friseur, alle in denselben Salon. Dort blieben wir sechs Stunden, wurden frisiert und manikürt, redeten und lachten, es war bereits ein Teil der Party. Die Henna-Nacht ist traditionell aber nicht nur unbeschwert und lustig, sondern auch traurig, da die Braut von ihren Eltern Abschied nimmt. Darum trifft sie sich an diesem Abend mit ihren Verwandten und Freundinnen, und alle singen zusammen melancholische, sentimentale und sehnsüchtige Lieder. Eine tief berührende Stimmung breitet sich aus. Ich saß auf einem Stuhl, alle scharten sich um mich, und eine ältere Frau stimmte mit beeindruckender Stimme ein schwermütiges Lied an: Dies ist die letzte Nacht, die Braut geht jetzt in die Ferne, fortan gehört sie zu einer anderen Familie … Nach der ersten Strophe setzten die übrigen Frauen ein. Erst war ich noch fröhlich, aber sie haben mich so lange mit steinerweichenden Melodien traktiert, bis es mich packte: Irgendwann, als allen um mich herum die Tränen flossen, als ich spürte, wie meine Cousinen Beyza und Emine, die nach der Hochzeit nach Deutschland zurückkehrten, mich weinend an den Händen fassten, heulte ich auch.
    Danach begann die eigentliche Henna-Zeremonie. Meine zukünftige Schwiegermutter hatte das Pulver mitgebracht, das nun feierlich zu einer Paste gemischt wurde, die meine Cousinen und Freundinnen auf einem mit Kerzen verzierten Tablett feierlich im Kreis um mich herumtrugen. Meine Schwiegermutter trat auf mich zu und drückte mir das Henna in die Handflächen. Nach der Tradition musste ich zunächst die Hände zur Faust ballen und geschlossen halten, bis meine Schwiegermutter mir ein Goldstück reichte. Nun öffnete ich die Handflächen, die die Hennapaste so intensiv färbte, dass der rotbraune Ton noch Wochen später zu sehen ist. Die Farbe Rot steht für Fruchtbarkeit und Liebe, für Kinder und Glück. Damit war der bedeutungsschwere, ernste Teil des Abends vorbei, und je weiter die Nacht fortschritt, desto fröhlicher wurde die Stimmung. Im Laufe des Abends stießen die Männer dazu, und wir tanzten bis in den Morgen – unter den Sternen, im Hof meines Vaters. Meine Mutter musste immer wieder weinen, genau wie ich, wir weinten vor Freude und vor Trauer, so genau ließ sich das nicht mehr trennen. Mein Vater fehlte mir in diesen Stunden besonders, doch zugleich spürte ich alle Freude meiner Henna-Nacht. So viele Eindrücke purzelten durcheinander und wechselten sich ab, jeder Moment wirkte wie emotional doppelbelichtet, sodass ich die Gefühle oft nicht mehr unterscheiden konnte.
    Am nächsten Nachmittag, am Tag der Hochzeit, saß ich in meinem weißen Kleid im ersten Stock des Hauses und wartete auf die Ankunft des Bräutigams. Neben mir standen meine Mutter und Kerim, sie ernst und gefasst, er stolz und ein wenig beklommen. Kerim hatte in dem nun folgenden Zeremoniell eine Schlüsselrolle, denn er nahm die Stelle meines Vaters ein. Es ging leise zu, das gedämpfte Gemurmel der anderen Verwandten erfüllte den Raum. Dann erklang Musik: Im Hof begrüßte eine Kapelle mit Trommel, Becken und Schalmei das festlich geschmückte Auto, das vor dem Haus hielt. Fatihs Eltern stiegen aus und kamen herauf, Kerim band mir nun eine rote Schärpe um und legte einen roten Schleier über mein Gesicht, sie symbolisieren die Unberührtheit der Braut. Die nächsten Schritte der Zeremonie sind in ihrem Ablauf nicht genau festgelegt, doch wissen die Beteiligten, was sie zu tun haben. Die beiden Familien gehen feierlich aufeinander zu und erweisen sich durch Worte und Gesten ihren Respekt und ihre gegenseitige Wertschätzung. Es ist wie eine Art Theaterstück, in den Details improvisiert, in den Grundzügen der Tradition gehorchend. Üblicherweise spielen die Väter dabei die Hauptrolle, der eine gibt seine Tochter frei, der andere nimmt sie in seine Familie auf. Mein Schwiegervater erklärte: Diese Braut, die ich hier vor mir sehe, wird mir wie ein eigenes Kind sein. Die Entgegnung fiel meinem Bruder zu: Ich verliere keine Schwester an diesem Tag, sagte Kerim, ich gewinne in Fatih einen Bruder.
    Kerim wirkte stark und würdevoll, doch diese Worte müssen ihn viel Kraft gekostet haben. Sie machten ihm noch einmal klar, wen er ersetzte, wer hier fehlte. Und uns beiden war bewusst, dass auch wir in diesem Moment symbolisch voneinander Abschied nahmen. Seit Vaters Tod hatten wir uns gegenseitig Halt gegeben, nun mussten wir endgültig unsere eigenen Wege gehen. Auch meine Verwandten spürten diese Wehmut,
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