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Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)

Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)

Titel: Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)
Autoren: Semiya Simsek , Peter Schwarz
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tanzt zugleich, in der einen Hand hält er die Videokamera, den anderen Arm hat er ausgestreckt, so bewahrt er die Stimmung dieser Nacht, das Bild wird wackeln, aber was macht das schon? Ein Kreis bildet sich um mich – ich fange die Blicke der Menschen auf, die mir nahestehen, ich sehe ihr Lächeln, ihre Anteilnahme, und über uns krachen Böller, es regnet Licht, rot und violett und grün und weiß. Die Musik ist so laut jetzt, dass sie alle Sorgen, alle Fragen übertönt, und dahinten sehe ich meinen Onkel Hursit, er tanzt mit sanften Bewegungen, die Augen halb geschlossen, als lausche er in sich hinein, er lächelt versonnen. Die Saz schwirrt, und da ist meine Mutter, auch sie klatscht und wiegt sich, sie tanzt mit Fatih, und dann tanzen wir zu dritt. Es ist ein Taumel, der das Zeitgefühl aufhebt. Heute ist heute, jetzt ist jetzt, in dieser Henna-Nacht siegt die Gegenwart über die Vergangenheit. Und die Zukunft – wenn Gott es so will, inschallah –, die Zukunft wird gut. Meine Mutter, mein Bruder, meine Tanten und Onkel, meine Cousinen, mein Cousin, meine Freundinnen und Verwandten, wir haben einander getragen in all den Jahren, wir werden einander weiter tragen, was auch geschieht. Wir trauern gemeinsam, wir feiern gemeinsam.
    Es ist ein Anfang.

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    Nachwort von Stephan Lucas und Jens Rabe
    Alles war so unkompliziert, schon bei unserem ersten Treffen. Die Herzlichkeit und Offenheit, mit der uns Semiya Simsek und ihr Bruder Kerim im November 2011 bei sich zu Hause in Friedberg empfingen, hatten wir nicht erwartet. Ihr Vater war ermordet worden, danach hatten die Ermittler es elf Jahre lang nicht geschafft, die Mörder zu finden, und stattdessen die Familie verdächtigt. Nun, im Herbst 2011, hatten die Geschwister erfahren, dass die Täter Neonazis waren, die ihren Vater in rassistischer, fremdenfeindlicher Gesinnung umgebracht hatten. Semiya und Kerim Simsek wollten sich Anwälte nehmen und hatten uns um ein erstes Gespräch gebeten. Wir entschieden uns für einen Besuch bei den Geschwistern zu Hause, da es für Hinterbliebene bei Tötungsdelikten meist angenehmer ist, solche ersten Gespräche in vertrauter Umgebung zu führen. Beklommen standen wir auf der Türschwelle. Würden wir den richtigen Ton treffen? Uns war bewusst, dass sich unsere Begegnung nicht in einer reinen Rechtsberatung erschöpfen würde. Wir waren hier nicht nur als Juristen gefragt, sondern mussten auch menschlich ganz nah an das Leid der Familie Simsek herantreten. Anfangs würde hier noch gar nicht der Strafprozess im Vordergrund stehen, sondern die persönliche Hilfestellung im Umgang mit dem Erlebten und all dem, was nun auf die Hinterbliebenen einstürmen würde. Ein Anwalt, der ein Opfermandat übernimmt, muss zunächst auf die Wünsche, Bedürfnisse und Ängste seiner Mandanten eingehen – und die sind unterschiedlich, von Fall zu Fall, denn jeder Mensch reagiert anders. Die notwendige individuelle Beziehung kann nur im persönlichen Gespräch entstehen. Wir konnten allenfalls erahnen, wie Semiya und Kerim Simsek mit dem Leid umgingen, das sie durch den Mord, die Verdächtigungen und die grausamen Erkenntnisse der letzten Tage erfahren mussten. Und wir wussten auch selbst nicht, was die Begegnung mit der Familie Simsek und ihrem Schicksal in uns auslösen würde. Wir konnten und wollten uns als Menschen nicht aus dem Fall ausblenden. Deshalb drückten wir bei diesem ersten Besuch nicht ohne Scheu auf den Klingelknopf.
    Wenige Minuten später saßen wir bei Semiya und Kerim Simsek in der Küche. Sie erzählten, sinnierten und diskutierten mit uns. Wir gingen keinen Fragenkatalog durch, wir unterhielten uns einfach. Unsere Beklemmung verflog sofort, und das lag sicher vor allem daran, dass die beiden Geschwister, bei aller spürbaren, unendlichen Traurigkeit, in keinem Moment verbittert waren. Es blieb nicht bei diesem ersten Gespräch, wir trafen uns nun regelmäßig. Meist am Wochenende, immer in der Friedberger Küche – Küchengespräche nannten wir diese Runden bald. Sie gaben uns Raum, über all das zu reden, was die Familie bewegte. Zugleich überschlug sich die mediale Berichterstattung. Mit Einsicht in die Strafakten war erst in Monaten zu rechnen, eine quälend lange Zeit. Wir halfen den beiden, die ständig neuen Informationen zu bewerten und sie mit ihren Fragen nicht allein zu lassen: Würden die mutmaßlichen Täter in Untersuchungshaft bleiben? Was ist mit den Helfershelfern? Könnte Beate
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