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Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)

Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)

Titel: Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)
Autoren: Semiya Simsek , Peter Schwarz
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damals jeder Einzelne bedroht fühlte, hält man sich beim rechten Terror zurück, und bereits jetzt wird manche Stimme laut, man habe sich doch nun wirklich lange genug mit dem Thema NSU aufgehalten. Liegt das daran, dass es eine schwache Bevölkerungsgruppe trifft, die Migranten? Das wäre erschreckend, verroht und gefährlich.
    Gewiss wird der Strafprozess weitere beunruhigende Erkenntnisse über das rechte Treiben zutage fördern. Es liegt nun an der Politik, endlich auf diese Gefahren zu reagieren, denn bislang hat die Staatsführung hier völlig versagt. Zu Zeiten des RAF-Terrors hatte man sich in zahllosen Erklärungen und Debatten positioniert, ähnlich nach dem islamistischen Terror am 11. September 2001. Beim NSU-Terror dagegen scheint die Politik gerne alle Verantwortung an den Ermittlungsausschuss, die Bundesanwaltschaft und den Strafprozess zu delegieren. Man wird darauf achten müssen, dass die Politik das Verfahren nicht benutzt, sich noch weiter ihrer Verantwortung zu entledigen. Die Strafjustiz mag ein Mittel der Kriminalitätsbekämpfung sein, zur Korrektur gesellschaftlicher Fehlentwicklungen wie des Rechtsextremismus war sie noch nie in der Lage.
    Seit der Berliner Gedenkveranstaltung enthält sich die Bundeskanzlerin fast vollständig der Kommentare zum Thema NSU, der Innenminister redet das Behördenversagen von Interview zu Interview kleiner und kleiner. Das neu eingerichtete gemeinsame Abwehrzentrum gegen Rechtsextremismus preist er als große Errungenschaft – nur kommt es Jahre zu spät, das gemeinsame Terrorismusabwehrzentrum zur Bekämpfung islamistischen Terrors wurde bereits 2004 eingerichtet. Andere Minister schweigen sich zum Rechtsterrorismus gänzlich aus. Als Begründung hört man immer wieder, dass dem Strafprozess nicht «vorgegriffen» werden solle. Doch man darf hier wohl eher politisches Kalkül vermuten. Denn seit wann hält sich die Staatsspitze bei für das Land so bedeutsamen Fragen bedeckt? Fürchtet sie womöglich, durch eine Stellungnahme gegen den seit der Sarrazin-Debatte wieder salonfähigen gutbürgerlichen Rassismus Wähler zu verlieren?

    Semiya Simsek wird als Nebenklägerin am Prozess teilnehmen. So kann sie sich aktiv in das Verfahren einbringen, kann Fragen und Anträge stellen. Sie hat das Recht, Stellung zu beziehen und nach Abschluss der Beweisaufnahme einen Schlussvortrag zu halten. Erst seit 1986 gibt es das Rechtsinstitut der Nebenklage, bis dahin hatten Opfer von Straftaten keine Gestaltungsrechte in den Prozessen. Sie waren höchstens als Zeugen gefragt. Doch Opfer haben Fragen, sie wollen Tat und Täter besser kennen, wollen vielleicht wissen, wie sehr und wie lange das Opfer leiden musste, und so vieles mehr. Zuletzt haben wir Michael Buback, den Sohn des 1977 von der RAF ermordeten Generalbundesanwalts Siegfried Buback, im Strafverfahren gegen die Exterroristin Verena Becker vertreten. Auch mehrere Familien, deren Kinder beim Amoklauf von Winnenden ermordet worden waren, begleiten wir durch die Prozesse. In diesen Verfahren war es immens wichtig, den Angehörigen der Opfer eine eigene Stimme zu geben. Die Besonderheit des anstehenden Prozesses ist das gleich mehrfache Unrecht: Die Familie Simsek wurde nicht nur zu Opfern des NSU, sondern auch der staatlichen Behörden, ihrer Fehler und Voreingenommenheit, ihrer Blindheit auf dem rechten Auge, ihrer Vertuschungen. Dies wird in der Hauptverhandlung gegen die mutmaßlichen Terroristen nur eingeschränkt eine Rolle spielen können. Verhandelt werden in einer strafgerichtlichen Hauptverhandlung nur die den Angeklagten in der Anklageschrift zur Last gelegten Taten. Gleichwohl werden sich die Opfer des über die Jahre erlittenen Unrechts in jeder Sekunde des Verfahrens bewusst sein.
    Die Richter des Oberlandesgerichts München haben in diesem Verfahren daher auch die Aufgabe, mit den ihnen zur Verfügung stehenden strafprozessualen Mitteln möglichst weitgehend Aufklärung zu erreichen und dabei mit den Opfern des NSU menschlich sensibel umzugehen. Nur dann wird es dem Gericht gelingen, nicht nur ein bindendes Urteil, sondern auch dessen breite Akzeptanz und damit Rechtsfrieden zu schaffen, nur dann wird die Gerechtigkeit auch für die Opfer fühlbar. Für viele von ihnen ist es überaus wichtig, sich an der öffentlich-juristischen Aufarbeitung des ihnen zugefügten Leids zu beteiligen, um das Erlebte zu verarbeiten. Bedauerlicherweise mussten wir oft die Erfahrung machen, dass das Mitgefühl, das ihnen
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