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Einkehr zum toedlichen Frieden

Einkehr zum toedlichen Frieden

Titel: Einkehr zum toedlichen Frieden
Autoren: Martina Kempff
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Tag 1, Freitag, frühmorgens
    Der mannshohe hölzerne Josef trägt einen mauvefarbenen
Umhang über seinem hellen Nachthemd und schaut mit gütigem Lächeln auf das
Christkind, das allen Babypuppen meiner Kindheit gleicht. Jetzt allerdings
wirkt es wie ein Objekt des Grauens: Es starrt genauso blicklos gen Himmel wie
der Tote, der neben Josef und Maria liegt. Der Ochse dahinter dezimiert laut
mampfend einen Heuberg; der Esel erleichtert sich ungerührt im Stroh.
    »Die meisten Gewalttaten«, sagt der zerzauste belgische
Bereitschaftspolizist, der sich mir als Marcel Langer vorgestellt hat, »spielen
sich in der Familie ab.« In seinen freundlich geäußerten Worten schwingt
Mitleid mit.
    »Aber ich kenne den Toten überhaupt nicht!«, rufe ich entgeistert.
»Ich habe doch grad erst erfahren, dass er mein Halbbruder ist!«
    »Ich nehme Sie ja auch nicht wegen Mordverdachts fest«, sagt der
Polizist, sich das Wörtchen »noch« offenbar verkneifend, »muss Sie aber bitten,
sich uns zur Verfügung zu halten.« Er mustert meinen Personalausweis. »Was hat
Sie überhaupt aus Berlin in die Eifel geführt?«
    »Mein Bruder«, murmele ich, »ich wollte ihn nur kennenlernen.«
    Ich starre auf den Toten, dessen Hinterkopf auf dem Krippenboden wie
von einem zu Boden gefallenen dunkelroten Heiligenschein eingerahmt ist. Im
Stroh dahinter liegt ein riesiger scharfkantiger Eisbrocken, der sich bei
näherer Betrachtung als Bergkristall herausstellt. Mit viel Blut daran.
Schlechtes Karma für eine Karriere als Heilstein, geht mir durch den Kopf; hier
sind wohl ganz andere Schwingungen aktiv gewesen.
    »Nicht anfassen!«, fährt mich der Polizist an, als ich mich nach dem
glänzenden Stein bücke.
    »Bestimmt ganz schön schwer«, sagt der Kollege und mustert mich
beziehungsreich. Klar, schwer bin ich auch. Uns Dicken traut man alles zu. Wir
verlieren eben nicht nur beim Essen die Beherrschung, sondern ergreifen spontan
jeden herumliegenden Bergkristall, um damit Schädel einzuschlagen.
    »Sichere den Tatort und ruf endlich den Staatsanwalt in Eupen an!«,
knurrt Langer und wendet sich wieder an mich.
    »Am Tag vor dem Mord an Ihrem Bruder, den Sie angeblich gar nicht
kennen, tauchen Sie hier in der Eifel auf und finden ausgerechnet ihn rein
zufällig am nächsten Morgen erschlagen in der Krippe vor?«
    »So in etwa«, flüstere ich. »Ich glaub, ich bin im falschen Film.«
    »Das sollten Sie mir in aller Ruhe erklären«, fordert er.
    Ich deute auf die Hinterwand des Hotels Balter. Nach diesem Schock
benötige ich dringend etwas Süßes.
    »Das ist bundesdeutsches Gebiet«, bemerkt er zögernd und fährt sich
durch verwuscheltes dunkles Haar mit vereinzelten Altersfäden.
    »Aber auf dem Handy kriege ich dort nur ein belgisches Netz«,
widerspreche ich.
    »So haarscharf abgrenzen kann man das wohl nicht«, meint er müde.
»Und das müssen wir in diesem Fall vielleicht auch nicht tun. Obwohl ich in
Uniform eigentlich nicht in Deutschland ermitteln darf. Aber ich brauche
unbedingt einen Kaffee. Und da drüben«, er nickt zu einem Café auf der
gegenüberliegenden Straßenseite hin, »im belgischen Old
Smuggler ist es jetzt viel zu voll.«
    Der hintere Gastraum des Hotels ist leer. Und Angriff die
beste Verteidigung.
    »Sie machen es sich sehr leicht, Herr Polizeiinspektor«, fahre ich
Langer an, als wir uns an einem kleinen Tisch vor einem mit Kakteen, Bügeleisen
und Porzellanfiguren geschmückten Fenster gegenübersitzen, »die fremde
Touristin zum Opfer zu machen …«
    »Halt!«, unterbricht der Polizist. »Das Opfer ist Belgier. Kaffee?«
Eine drahtige Kellnerin mit Schreibblock strebt auf uns zu.
    »Ja! Und ein großes Stück Schokoladentorte. Bitte.«
    Das letzte Wort schiebe ich für die Kellnerin nach. Als sich die Tür
hinter ihr schließt, fahre ich fort: »Wer schuldlos zum Täter gemacht wird, ist ein Opfer. Und diese Rolle habe ich gründlich satt!
Damit Sie Bescheid wissen, Herr Langer, ich habe vorgestern meine Mutter
beerdigt, meinen Arbeitsplatz sowie meinen Freund verloren und wurde obendrein
noch aus meiner Wohnung vertrieben! Ich finde, mein Soll an Schicksalsschlägen
ist für diese Woche gedeckt. Ich lasse mir nicht auch noch den Mord an einem
langhaarigen, schmuddeligen Mann anhängen, der mein Bruder sein soll und den
ich überhaupt nicht kenne!«
    Aber dessen Leiche ich aufgefunden habe, weil ich an offenen Pforten
einfach nicht vorbeigehen kann, setze ich für mich hinzu.
    »Ich möchte Ihnen nichts
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